Als George am 1. Juli erwacht, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Die Welt, die gerade noch von einer fürchterlichen Pandemie heimgesucht worden ist, ist nicht wiederzuerkennen. Seine Freundin Sarah ist bei ihm, die Sonne scheint und von einer Pandemie ist nichts zu sehen. Was daran liegen könnte, dass das Jahr, das alles verändert, erst noch stattfinden wird...
Stab
DARSTELLER: Paapa Essiedu, Anjili Mohindra, Rudi Dharmalingam, Tom Burke, Caroline Quentin, Salóme Rannveig Gunnarsdóttir, Chris Fulton, Brian Gleesn, Enyi Okoronkwo, Charlie Clive
SHOWRUNNER: Marco Kreuzpaintner, Joe Barton
REGIE: Marco Kreuzpaintner, Laura Scrivano
KAMERA: Phillip Haberlandt
PRODUKTION: Adam Knopf
SCHNITT: Anil Griffin, Johannes Hubrich
EXECUTIVE PRODUCERS: Joe Barton, Johnny Capps, Marco Kreuzpaintner, Julian Murphy
PROUDUKTIONSUNTERNEHMEN: Urban Myth Films
MUSIK-THEMA: Ben Lukas Boysen
Es ist nicht so, dass das Vereinigte Königreich an Mangel an guten Drehbuchautoren und Regisseuren hätte. Wenn also ein deutscher Autor und Regisseur eine Serie in Großbritannien dreht, muss die Idee, die ihm diese Türen geöffnet hat, schon verdammt gut gewesen sein. Und «The Lazarus-Project» ist verdammt gut. Die Sky-Eigenproduktion widmet sich – auf seine ganz eigene Art und Weise – der Thematik von «Und täglich grüßt das Murmeltier». Allerdings macht sie das wirklich auf ihre ganz eigene Art und Weise.
Dreh- und Angelpunkt der Serie ist George, ein App-Entwickler. Er hat eine Finanzmarkt-App entwickelt, die ihre Voraussagen nicht nur anhand von Zahlen tätig, sondern auch äußere Umstände mathematisch berücksichtigt. Wird ein Konzern etwa von einem alten Patriarchen geleitet, könnte dessen Ableben zu einem Erbstreit führen, und so weiter. Um den Algorithmus weiterentwickeln zu können, braucht George finanzstarke Finanziers und einen solchen findet er tatsächlich – an einem 1. Juli. Es ist der Tag seines Lebens. Er wird bald seine Freundin Sarah heiraten, mit seiner App wird er wahrscheinlich sehr viel Geld verdienen, das Leben könnte so schön sein, gäbe es da nicht die Pandemie, die sich langsam ausreitet, dabei aber eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Das alles wirft auch George aus der Bahn, er verliert alles, was ihm wichtig war und ist. Bis er am 1. Juli neben Sarah im Bett aufwacht und feststellt, dass das gesamte letzte Jahr ein Traum gewesen sein muss. Was nicht sein kann. An einen Traum kann man sich im besten Fall bruchstückhaft erinnern, dieses Jahr aber hat stattgefunden. Vollkommen von der Rolle stellt er auf dem Weg zum Gespräch mit einem potenziellen Finanzier fest, dass sich der Weg in die City genau so abspielt wie – vor einem Jahr? Die gleichen Menschen, die gleichen Situationen. Vollkommen neben der Spur stehend, versaut er allerdings die Präsentation, dafür beginnt er, sich auf das, was kommen wird, vorzubereiten. Was bedauerlicherweise in einer ziemlichen Paranoia mündet.
Kurz bevor George tatsächlich den Verstand verliert, trifft er Archie, eine elegante, sprachgewandte Frau, die ihn darüber aufklärt, dass er keinesfalls wahnsinnig geworden ist. Er hat ein Jahr erlebt, an das sich niemand anderes erinnern kann. All das, was geschehen ist, ist wirklich passiert. Da er ihr aber nicht glauben wird, gibt sie ihm eine Adresse. Dorthin soll er kommen, wenn er wieder im Bett neben Sarah erwacht. Am nächsten Tag erwacht George neben Sarah. Es ist der 1. Juli.
Und das ist nur der Anfang
Kein Scherz, das ist die Zusammenfassung von etwa der Hälfte der ersten Episode der Sky-Serie, die, man höre und staune, aus der Feder des deutschen Autors und Regisseurs Marco Kreutzpaintner stammt, der 2008 «Krabat» zum Erfolg führte und mit dem Gerichtsthriller «Der Fall Collini» immerhin 800.000 Besucher in die deutschen Kinos locken konnte (außerdem ist der Film international auf Netflix offenbar ziemlich gut abgegangen). Marco Kreutzpaintner, Regisseur von «Krabat» und «Der Fall Collini», hat die Serie nicht nur konzipiert, er hat auch die erste Hälfte der Staffel inszeniert und damit die Marschrichtung vorgegeben, die bald auf Thriller umpolt: Denn nach dem erneuten Zeitsprung läuft George direkt zu der Adresse, die ihm Archie gegeben hat und wird dort bereits erwartet. Vor allem aber muss er nicht lange auf die Erklärung für das Geschehen warten. Er bekommt sie sofort. Archie ist Mitglied einer streng geheimen Regierungsorganisation, die seit Jahrzehnten den Lauf der Welt verändert. Dies ist möglich dank einer Singularität im All, mit der sich die Zeit zurückdrehen lässt. Jedoch nicht beliebig. Man hat quasi 364 Tage, die den Sprung zurück auf den 1. Juli möglich macht. Nach exakt 365 Tagen jedoch – beginnt tatsächlich ein neues Jahr. Wer also auf den 1.7.2021 hätte zurückspringen möchte, hätte bis zum 30.6.22 springen müssen. Jetzt wäre quasi nur ein Sprung auf den 1.7.22 möglich.
Der Auftrag der Organisation: Die Welt vor der Apokalypse bewahren. Wie damals, nachdem die Amerikaner während der Kubakrise die Sowjetunion tatsächlich mit Atomraketen angegriffen hatten. Es dauerte etwas, diesen Vorfall zu verhindern, aber am Ende gilt nur, was in den Geschichtsbüchern steht. Und da haben die Sowjets bekanntermaßen klein beigegeben und damit den Tag gerettet. Die Regeln sind streng: Ein Eingriff ist nur erlaubt, wenn ein Ereignis von globalen Ausmaßen zurückgedreht werden soll, dessen Folgen so verheerend sind, dass die gesamte Menschheit darunter leidet. Ein Atomkrieg erfüllt diese Kriterien. 9/11 nicht. Auch eine Pandemie ist ein Grund, die Uhr zurückzudrehen. Oder erinnert sich jemand daran, wie Corona wirklich gefetzt hat? Eben, es hat Gründe, warum die Entwicklung eines Impfstoffes nur neun Monate brauchte.
Der menschliche Geist ist allerdings nicht in der Lage, diese Sprünge wahrzunehmen. Bei den meisten Mitarbeitern der Organisation wird diese Erinnerungssperre durch ein Medikament ausgeschaltet. George ist jedoch eine Anomalie. Er hat einen Gendefekt, der irgendwann seine Erinnerungen startete.
Anomalien überall
Um eines klar zu sagen: Physikalisch macht das alles nicht wirklich Sinn. Man sollte es nicht hinterfragen. Das muss man aber auch nicht, weil die Macher um den deutschen Marco Kreutzpaintner die wichtigste Regel des Serienmachens berücksichtigen: Du darfst nicht langweilen. Demnach wird die Sache mit der Physik bald abgehakt und stattdessen wird der Spannungsmotor angeschmissen. George wird auf jeden Fall bald zu einem Agenten ausgebildet, denn seine Fähigkeiten sind zu wichtig, als dass man sie ignorieren könnte. So erfährt er nach und nach, dass einer der Gründe, warum er sich ausgerechnet in dieser einen Zeitschleife befindet, die immer an dem Morgen neu beginnt, an dem er das Gespräch mit seinem Investor führen soll, ausgerechnet mit einem Verbrechen in Zusammenhang steht, bei dem nicht nur eine Atombombe eine Rolle spielt, sondern bedauerlicherweise auch ein ehemaliger Agent der Organisation, Rebrov.
Der hat vor Jahren die Seiten gewechselt. Warum, das weiß niemand so ganz genau (oder vielleicht will es auch nur niemand genau wissen). Das Problem: Rebrov weiß natürlich, wie seine Leute arbeiten und ist ihnen daher auch immer einen Schritt voraus. Bis George kommt, der unvoreingenommen an die Recherchen über Rebrovs möglichen Aufenthaltsort geht und diesen tatsächlich in Paris lokalisiert. Der Versuch, Rebrov zu verhaften, scheitert jedoch krachend durch die Explosion einer Atombombe mitten in Paris.
Es ist der 1. Juli und George wacht neben Sarah auf. Und dieses Mal weiß George, was geschehen ist. Er hat eine Idee, wie man Rebrov habhaft werden kann und tatsächlich: Der abtrünnige Agent landet im Gefängnis der Organisation. Seltsam erscheint George nur, dass Rebrov nicht wirklich ins Schema eines Söldners passen will, der sich verkauft hat. Da ist mehr, was ihn antreibt. Und dann ist da dieser Moment im Leben von George, der so überraschend und aus dem Nichts kommt, dass die Welt für ihn stehenbleibt. Ein Moment, der überhaupt nicht vorhersehbar ist und alles auf den Fugen geraten lässt, was für George das Leben bedeutet. Nur bleibt die Zeit nicht stehen, weil dieser Moment nun einmal keine globalen Auswirkungen hat. Das Leben geht weiter. Was aber, wenn du die Möglichkeit hättest, die Welt auf Reset zu stellen?
«The Lazarus Project» braucht eine Episode, um die Welt von George zu etablieren. Die Serie braucht noch eine zweite Episode, um diesen Handlungskosmos auszuschmücken. Das alles ist ohne Fehl und Tadel inszeniert – aber es ist nur der Prolog, denn wirklich auf das Gaspedal tritt die Serie ab der dritten Episode. Ab diesem Moment kennt die Serie nur noch eine Richtung. Ohne Abzweigung geradeaus. Trotz einer Geschichte, die die Welt in Wahrheit zurückdreht. «The Lazarus Project» entwickelt eine Sog-Wirkung, die unerwartet kommt. Die ersten beide Episoden sind unterhaltsam, die Schauspieler füllen ihre Figuren mit Leben, die Inszenierung (Kamera, Schnitt, Action) bewegen sich auf einem Niveau über Durchschnitt. Aber das kann man von einer Serie, für den internationalen Markt konzipiert ist und NBC als internationalen Vertriebspartner, gewinnen konnte, fast schon erwarten. Das alles wäre aber nicht so aufregend, würde die dritte Episode nicht eine vollkommen unvorhersehbare Richtung einschlagen. Das ist fesselnd, das ist spannend, das ist krachend. Wohin die Serie am Ende führt, das ist eine große Überraschung.
Aufgrund ihres Erfolges im Vereinigten Königreich hat Sky bereits eine zweite Staffel in Auftragt gegeben.
«The Lazarus Project» kann bei Sky/WOW gestreamt werden.
06.12.2022 11:14 Uhr
Kurz-URL: qmde.de/138616
Christian Lukas
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