Mit dem Spielfilm befeuert Netflix einen neuen Konflikt, denn der Film ist inhaltlich erwartbar, aber könnte die Kinobranche umkrempeln.
Ja, gewiss kommt die dritte und erstmals deutsche Verfilmung von Erich Maria Remarque 1928 erschienenen Roman «Im Westen nichts Neues» zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt, wo seit dem Angriff der Russen auf die Ukraine in Europa wieder Krieg herrscht, dessen Ausgang noch keiner erahnen kann. Von Europa aus fingen bereits die ersten beiden Weltkriege an, und mit dem Ersten werden wir jetzt noch einmal filmisch konfrontiert. Dieser wütete von 1914 bis 1918 und kostete neun Millionen Soldaten das Leben. Remarque verarbeitete damals eigene Kriegserlebnisse, aber auch die von Kameraden. Bereits zwei Jahre nach Veröffentlichung folgte die erste Verfilmung aus den USA. Nicht nur Regisseur Lewis Milestone bekam dafür den Oscar, sondern auch der deutschstämmige Produzent Carl Laemmle Jr. in der Kategorie ‚Bester Film‘. Bei seiner deutschen Uraufführung wurde über «Im Westen nichts Neues» wie schon beim Roman heftig diskutiert, die NSDAP rief zum Boykott aus und tatsächlich wurde der Film noch vor Machtergreifung der Nazis sogar teilweise verboten. 1979 wurde der Stoff fürs amerikanische Fernsehen noch einmal mit Richard Thomas («Die Waltons») verfilmt, konnte sich jedoch mit der Erstverfilmung nicht messen. Nun versucht es Edward Berger («All My Loving»), der mit Netflix einen finanzstarken Partner für seine Version fand. Dies feuert wiederum nochmals einen ganz anderen Krieg an: Streaming-Anbieter versus Kinobetreiber. Zwar kommt «Im Westen nichts Neues» zuerst ins Kino, aber schon nach einem Monat lässt sich das Kriegsspektakel bereits bei Netflix streamen. Ein viel zu kleines Zeitfenster, um «Im Westen nichts Neues» als Kinofilm deklarieren zu können.
Kanonenfutter fürs deutsche Vaterland
Paul Bäumer (Felix Klammerer) hat genug von der Schule. Wie seine Mitschüler Albert (Aaron Hilmer) und Frantz (Moritz Klaus) drängt es ihn an die Westfront, um freiwillig fürs Vaterland zu kämpfen. Doch das Ausharren in den Schützengräben ist demütigend und unmenschlich. Zum Glück lernt er den älteren Stanislaus (Albrecht Schuch) kennen, der den 17-Jährigen unter seine Fittiche nimmt. Der Kampf gegen die Franzosen wird jedoch immer brutaler. Während Paul zunehmend mit ansehen muss, wie seine Kameraden auf schrecklichste Weise den Tod finden, erkennt die deutsche Führung, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Staatssekretär Matthias Erzberger (Daniel Brühl) soll einen Friedensvertrag aushandeln. Aber es gibt auch Andersdenkende wie General Friedrichs (Devid Striesow), der die letzten Stunden bis zum Waffenstillstand für eine letzte Großoffensive nutzen will. Ein sinnloser Kampf, bei dem auch Paul Bäumer fällt.
Ein Film wie für Preise gemacht
Dass «Im Westen nichts Neues» überhaupt in die deutschen Kinos kommt, hängt nicht nur damit zusammen, dass das Werk für den Oscar in der Kategorie ‚Bester fremdsprachiger Film‘ von Deutschland aus ins Rennen geworfen wurde (ob er tatsächlich dann unter die Nominierten kommt, obliegt der Academy of Motion Picture Arts and Sciences), sondern auch, dass man ihn bei der nächsten Verleihung des Deutschen Filmpreises gewiss mehrfach nominieren möchte. So gesehen ist die kurze Kinoauswertung von vier Wochen eher eine Mogelpackung. Denn Netflix ist an Kino gar nicht interessiert, die Deutsche Filmakademie indes hat sich klar zu einer exklusiven Kinoauswertung von Filmen positioniert. Das könnte nochmals für reichlich Konfliktpotenzial sorgen. Denn sollte «Im Westen nichts Neues» beim Deutschen Filmpreis abräumen, fließen hohe Geldsummen an einen rein kommerziell arbeitenden Konzern, die vom deutschen Steuerzahler kommen. Und sagt das nicht auch einiges über die Traurigkeit des deutschen Films aus? Denn wenn schon jetzt eine prestigehaltige Netflix-Produktion zum preisverdächtigsten Film des Jahres auserkoren ist, müssen das alle anderen deutschen Filmemacher, deren Projekte mit Fördergeldern finanziert wurden, als Schlappe empfinden. Macht Filmförderung dann überhaupt noch Sinn, wenn Konzerne wie Netflix ‚bessere‘ Filme ohne finanzielle Unterstützung hinkriegen?
Im Kino nichts Neues
Natürlich hat «Im Westen nichts Neues» auf dem ersten Blick das Potential, überall gefeiert zu werden. Immerhin ist «Das Boot» (1981) noch immer der erste Titel, der fällt, wenn man im Ausland nach dem bekanntesten deutschen Film fragt. «Das Boot» ist ebenfalls ein Kriegsfilm, der aber vor allem durch seine klaustrophobischen Bilder in einem engen U-Boot beeindruckte. «Im Westen nichts Neues» indes spielt auf dem großen Schlachtfeld und beeindruckt ebenfalls -jedoch mit erschreckenden Bildern über das Elend von Soldaten, die sich durch Schlamm, Dreck und Blutpfützen wälzen und neben sich schreiende Kameraden und verstümmelte Leichen ertragen müssen. Dann detoniert wieder eine Bombe, ein Soldat wird dumpf von einer Kugel getroffen und fällt leblos zur Seite. Edward Berger gibt einem das Gefühl, mittendrin zu sein im Kriegsgeschehen, und das zweieinhalb Stunden lang. Vorteile, die für einen Kinobesuch sprechen: Der fette Sound, gewaltige Massenszenen und wuchtige Feuerwerke.
Neu ist das alles im Kino allerdings nicht. Bereits Sam Mendes vermittelte 2020 ein solches cineastisches Kriegserleben mit «1917», davor waren es Christopher Nolan mit «Dunkirk» (2017) und noch früher Steven Spielberg mit «Der Soldat James Ryan» (1998). Einen alten Krieg mit neuer Filmtechnik wiederaufleben lassen und am Ende die große Botschaft, das Krieg schrecklich ist - mehr kann uns also auch der dritte Anlauf von «Im Westen nichts Neues» nicht geben. Auch wenn sich Berger bei seiner Umsetzung etliche Freiheiten genommen hat.
Wichtige Passagen und Charaktere hat er weggelassen, der patriotische Lehrer, der Paul und die anderen Jungs am Anfang regelrecht dazu aufstachelt, freiwillig an die Front zu gehen, fehlt genauso wie der verlachte Postbote Himmelstoß, der die jungen Soldaten später im Ausbildungslager drangsaliert und somit sein kleines bisschen Macht missbraucht. Die Abrichtung für den Kriegsdienst wird hier sowieso nicht mehr thematisiert, ebenso wenig Pauls Fronturlaub und Rückkehr in die Heimat, die ihm fremd geworden ist. Neu dafür ist ein zweiter Handlungsstrang mit Daniel Brühl als Friedensstifter auf der einen Seite und Devid Striesow als Kriegstreiber auf der anderen. Was dann doch irgendwie so wirkt, als wäre das alles nicht mehr wie ein Kampf Gut gegen Böse wie man ihn aus einem Marvel-Superhelden-Actionspektakel gewöhnt ist.
Fazit: Die erste deutsche Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman weist etliche Veränderungen auf. Einmal mehr soll damit der Schrecken des Krieges vermittelt werden - brutal inszeniert und actionreich dargeboten. Im Kino nichts Neues.
Ab 28. Oktober 2022 kann der Film auch bei Netflix gestreamt werden.
06.10.2022 11:18 Uhr
Kurz-URL: qmde.de/137278
Markus Tschiedert
Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
06.10.2022 12:29 Uhr 1
Und "Das Boot" zeigt den ersten Weltkrieg aus der Sicht eines jungen Soldaten...
06.10.2022 12:49 Uhr 2
24.10.2022 19:39 Uhr 3