Vanessa Schlesier drehte in Afghanistan für „Kabul-Luftbrücke“, und Antje Boehmert war Producerin des Projektes. Wir sprachen mit ihnen über ihre Doku-Reihe, die jetzt in der ARD-Mediathek startet.
Hallo, Frau Schlesier und Frau Boehmert, am 5. August 2022 startet «Mission Kabul-Luftbrücke» in der ARD-Mediathek. Welche Inhalte erzählen Sie in dem Vierteiler?
Vanessa Schlesier: Die Serie erzählt von der Arbeit der „Kabul-Luftbrücke“. Eine NGO aus Berlin, die seit der Machtübernahme der Taliban im August 2022, Menschen mit einer Aufnahmezusage für Deutschland, evakuiert. Als die militärische Evakuierung beendet war, waren immer noch zehntausende Menschen im Land, die fliehen mussten, weil sie als Ortskräfte, Medienschaffende, Künstler oder Menschenrechts-Verteidigerinnen in Lebensgefahr waren und teilweise bis heute sind. „Kabul-Luftbrücke“ hat damals beschlossen, auf eigene Faust Menschen mit einer Aufnahmezuge für Deutschland zu evakuieren.
Antje Boehmert: Über Monate begleitet die Serie die Arbeit von „Kabul-Luftbrücke“ - in der afghanischen Hauptstadt, in Torkham an der Grenze zu Pakistan, Islamabad und Berlin. Wir dokumentieren, wenn ehemaligen Ortskräften die rettende Ausreise gelingt, wenn auf der Flucht von ihren Eltern getrennte Kinder verzweifelt auf ein Wiedersehen hoffen und junge Frauen sich entscheiden, lieber ihr Land zu verlassen, als sich den Regeln der neuen Machthaber zu unterwerfen.
Vor einem Jahr gingen dramatische Bilder um die Welt: Menschen klammerten sich an Flugzeuge und wurden im Stich gelassen. Wie haben Sie auf diese Bilder reagiert?
Vanessa Schlesier: Ich stelle mir bei solchen Bildern immer vor, wie verzweifelt die Menschen gewesen sein müssen. Eine Verzweiflung, die übrigens immer noch da ist. Das ist schwer zu ertragen.
Antje Boehmert: Ich kann diese Bilder bis heute kaum anschauen. Sie haben mich traurig, wütend und fassungslos gemacht.
Wie schnell kann man bei einem solchen Film eine Crew zusammentrommeln, die sich dieses Themas annimmt?
Antje Boehmert: Mit der Produktion haben wir im Februar 2022 begonnen. Das Team war schnell gefunden. Wir sind drei Co-Autor:innen, allen voran Vanessa, die die Arbeit der Kabul-Luftbrücke schon vorher begleitet hat. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen. Ronald Rist ist Editor und hat am Schneidetisch diese Serie geformt. Neben uns drei Autor:innen haben uns die Producerin Nele Huff und die anderen Teammitglieder durch diese intensiven Monate getragen.
Gab es auch Kollegen und Kolleginnen, die nicht nach Afghanistan reisen wollten?
Antje Boehmert: Es war von Anfang an klar, dass nur Vanessa Schlesier nach Afghanistan reisen würde, was sie ja zu diesem Zeitpunkt auch schon getan hatte. Darum hat sich die Frage nicht gestellt. Vanessa hatte aber genaue Vorstellungen, wie sie vor Ort arbeiten wollte.
Vanessa Schlesier: Ich war bereits zwei Monate in Pakistan als ich letztes Jahr im November zum ersten Mal nach Afghanistan gereist bin. Und wie in anderen Krisenregionen gilt: je unauffälliger, desto besser. Ich drehe selbst und arbeite mit einem lokalen Producer, der Land und Leute kennt und übersetzt.
Unter anderem war eine Ihrer Protagonistinnen, die Journalistin und Mitbegründerin der Kabul-Luftbrücke Theresa Breuer, vor Ort. Hatten die Frauen Probleme, mit gläubigen Männern zu reden?
Vanessa Schlesier: Selten kommt es vor, dass ein Talib nicht mit uns reden will. Da kommt dann so ein Satz wie ‚Schaff sie mir aus den Augen‘. Manche schauen uns gar nicht erst in die Augen. Aber die meisten geben Auskunft, sobald wir ihnen den Brief des Außenministeriums zeigen, der unsere Arbeitsgenehmigung ist.
Wie viel Religion beherrscht das Land?
Vanessa Schlesier: Ein Beispiel: Das Ministerium für Frauenangelegenheiten wurde zum Ministerium „zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters“ umgewandelt. Es soll die Einhaltung der Scharia überwachen. Religion ist für die Taliban vor allem ein Mittel der Machtausübung.
Die Taliban sind zu Journalisten äußerst freundlich und gewähren Interviews und einzigartige Aufnahmen. Ist das ein gewiefter PR-Schachzug?
Vanessa Schlesier: Das war es am Anfang sicherlich. Als ich mir letzten November meine Pressegenehmigung abholte, bat mich der Pressesprecher des Außenministeriums in sein Büro und erklärte mir, ich dürfe mich im ganzen Land frei bewegen, wir internationale Journalisten seien dem Emirat sehr wichtig, weil wir das Narrativ in unserem Heimatland ändern können. Nun, das hat so nicht funktioniert und die Taliban ändern ihre Strategie langsam in Richtung Einschüchterung. Mittlerweile werden Journalisten des Landes verwiesen, wenn ihre Geschichten den Machthabern nicht passen oder sie sich weigern ihre Quellen preiszugeben.
Wie lang dauerte die Produktion der insgesamt fast dreistündigen Dokumentationen?
Antje Boehmert: Wir hatten für Schnitt und Endfertigung ungefähr fünf Monate Zeit. Das gedrehte Material für die Serie umfasst aber den Zeitraum September 2021 bis Ende Juli 2022. Vanessa hatte schon viel früher mit den Dreharbeiten begonnen und wir haben auch Material von anderen Realisatorinnen lizensiert.
Welche Rolle spielt eigentlich die Corona-Pandemie in Afghanistan und sind dort Impfungen ein Thema?
Vanessa Schlesier: Ehrlich gesagt eine sehr untergeordnete Rolle. Seit der Machtübernahme ist die Wirtschaft komplett kollabiert, es gibt keine Jobs, die Lebensmittelpreise sind gestiegen. Die meisten Menschen sorgen sich eher darum wie sie sich und ihre Familie morgen ernähren sollen.
Gibt es ein Thema, das Ihnen bei unserem Interview zu kurz kam?
Vanessa Schlesier: Ich würde gerne nochmal auf die dramatische Lage der Frauen in Afghanistan eingehen. Die Taliban erlassen Dekret nach Dekret, um ihnen jegliche Freiheiten zu nehmen und sie im Endeffekt auf ihre eigenen vier Wände zu beschränken. Diese Frauen sind in den letzten 20 Jahre mit den von uns propagierten Werten aufgewachsen. Und für jede dieser Frauen sollte es Platz in unserem Aufnahmeprogramm geben, wobei ich ganz klar sagen muss, das bedeutet nicht, dass das dann die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, sondern das sind wenige zehntausende, die in den westlichen Blasen der Städte Afghanistans gelebt haben. Und wir sehen anhand unserer Protagonistinnen – zum Beispiel den fünf Mädels der Sadat-Familie - wie sehr sie jede Minute ihrer Freiheit in Deutschland genießen und das Beste aus ihrem Leben hier machen. Und das ist sehr schön, zu sehen.
In den vergangenen Monaten beschäftigen sich auch andere Redaktionen mit dem Thema Afghanistan wie der NDR. Tauschen Sie sich innerhalb der ARD-Anstalten aus, um verschiedene Perspektiven zu zeigen?
Antje Boehmert: Es gibt verschiedene inhaltliche Ansätze und Perspektiven zum Thema Afghanistan in der Berichterstattung rund um den Jahrestag innerhalb der ARD, das nehme ich auch wahr. Die Abstimmung läuft über die Redaktionen der ARD-Anstalten und ihre Doku-Koordination – dazu kann ich nichts sagen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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