Mitten in der Corona-Pandemie warf Netflix seine erste große Reality-Show auf den Markt. Doch diese war für Reality-Experten ein Schlag in die Magengrube.
Im April 2020 veröffentlichte der Streamingdienst Netflix die Reality-Show
«Too Hot to Handle», die in Deutschland unter «Finger weg!» bekannt wurde. Zehn Singles, davon fünf weiblich und fünf männlich, werden vier Wochen in eine luxuriöse Villa auf einer Halbinsel in der Nähe der mexikanischen Stadt Puerto Vallarta gesteckt. Die Bertelsmann-Tochter Fremantle entwickelte die Sendung, in der sexuelle Handlungen zur Reduzierung des Preisgeldes von 100.000 US-Dollar führt. Bereits drei Staffeln sind für Netflix entstanden, neue Episoden werden vorbereitet. Die Challenge, die auf der Episode „The Contest“ der Sitcom «Seinfeld» basiert, lockt viele Zuschauer zum Streamingdienst.
Doch der große Wurf war «Too Hot to Handle» nicht gerade. Der Streamingdienst aus Los Gatos warf in den vergangenen Jahren zahlreiche Shows auf dem Markt, die sich von amerikanischen Factual- und Unterhaltungssendern nicht unterscheiden. Das erst vor Kurzem um eine sechste und siebte Staffel verlängerte
«Selling Sunset» begleitet die Makler der Immobilienfirma Oppenheimer und zeigt deren Privatleben. Das Format ist nichts anderes als ein Abklatsch der zahlreichen «The Real Housewives» des Senders Bravo, der inzwischen sein Programm fast nur noch mit solchen Shows füllt.
HBO Max fuhr mit dem Reality-Wettbewerb «FBoy Island» große Erfolge ein, doch dieses Format ist auch nur eine Liebesshow, wie sie es in den Vereinigten Staaten von Amerika wie Sand am Meer gibt. Der Streamingdienst RTL+ holt schon seit geraumer Zeit die amerikanischen Vorlagen seiner Show wie «Temptation Island», «Ex on the Beach» und «Are You The One?» in sein Portfolio. Selbst Disney+ hat zwar mit
«The Kardashians» eine furchtbar erfolgreiche Marke auf seinen Streamingdienst geholt, aber auch das Format ist nichts anderes als die Fortführung von «Keeping Up with the Kardashians», das einst von NBC Universal stammt.
Netflix‘ Situation hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Noch vor sieben Jahren war das Angebot ein Pionier und konnte mit Serien wie «House of Cards» und «Orange Is the New Black» mit Qualität überzeugen. Doch das Publikum seht sich nach zahlreichen Inhalten und was schon im linearen Fernsehen funktioniert, könnte auch beim Streaming klappen. In Deutschland sind schließlich das Dschungel-Camp und «Promi Big Brother» beliebt, in den Vereinigten Staaten von Amerika holen «Big Brother» und «Love Island» die jungen Zuschauer zum Sender CBS, der eine ähnliche Zuschauerstruktur hat wie hierzulande das Zweite Deutsche Fernsehen.
Immerhin hatten Formate wie «To Hot to Handle» und «Tiger King» den glücklichen Zufall, dass deren Veröffentlichung auf den Beginn der Corona-Pandemie fiel. Millionen von Menschen saßen im Lockdown und konnten bei den Love-Formaten in eine andere Welt eintauchen. Auch deshalb funktionierten die Formate so herrlich und das war auch der Grund, warum hierzulande auch «Das Sommerhaus der Stars» so erfolgreich im ersten Pandemie-Jahr funktionierte. Das Erfolgsgeheimnis erklärte «Too Hot to Handle»-Schöpferin Laura Gibson: „Ich denke, jeder kann verstehen, wie es sich anfühlt, wenn man dir sagt, dass du etwas nicht haben kannst und du es deshalb noch mehr willst“ und verwies auf die Corona-Pandemie, die damals die Produktionen stillstehen ließ. „Und das gilt umso mehr, wenn es um Sex geht“, führte Gibson weiter aus.
„«Too Hot to Handle» kam, als alle im Lockdown waren und Menschen auf der ganzen Welt vor dem gleichen Problem standen: sich ihre Wünsche nicht erfüllen zu können. Alle Dating-Shows davor basierten darauf, Singles zu Beziehungen zu ermutigen, unsere taten das Gegenteil“, so die Erfinderin. Dennoch bleibt die Bandbreite dieser Reality-Show recht überschaubar: Obwohl es zahlreiche Experimente abseits der Love-Realitys gab, versteift sich Netflix auf dieses Thema. Auch wenn man mit Studio Lambert einen Partner hat, der mit «The Circle» eine Koproduktion mit Channel 4 hatte. Die britische Reality-Show handelt von acht Personen, die in einem Haus im britischen Salford leben. Jeder Teilnehmer hat ein eigenes Appartement, doch Treffen zwischen den Teilnehmern finden nicht statt. Stattdessen kommuniziert man mit den anderen Personen mit Hilfe eines sozialen Netzwerkes.
Das US-Network CBS hat seit 20 Jahren mehrere Celebrity-Competition-Shows im Programm: Zum einen wäre das die Überlebensshow «Surivior», zum anderen die äußerst aufwändige Reise- und Abenteuershow «The Amazing Race». Man sollte meinen, wenn im Fernsehen solche Formate möglich sind, könnte das auch bei Streamingdiensten durchführbar sein. Oder schauen wir nach Deutschland: Warum produzieren die Streamingdienste kein «Sing meinen Song!»-Franchise, hier böte sich ein riesiges Teilnehmerfeld an.
«Finger weg!», «FBoy Island» & Co. Das Angebot der Love-Interest-Shows bei Streamingdiensten wird immer größer – vor allem Netflix entscheidet sich zunehmend mehr für diese recht preiswerten Produktionen. Allerdings sinkt das Interesse an den Formaten, wenn man alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. Hoffentlich kriegen die Streamingdienste den Bogen, wenngleich wir auch in Deutschland das gleiche Problem mit RTL+ haben.
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