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Wieso können wir ein Ekel wie Frank Underwood aus «House Of Cards» ertragen?

In seinem neuen Buch „FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE“ befasst sich der Medienwissenschaftler Christian Richter mit der Frage: Wie viel altes Fernsehen steckt in Netflix und YouTube? Quotenmeter präsentiert exklusive Auszüge aus seinem Werk. Teil III: Vertrau‘ mir, hier spricht das Fernsehen!

Welcome to Washington
Die Handlung der Netflix-Serie «House Of Cards» (USA, 2013 – 2018) setzt am Silvesterabend des Jahres 2012 in Washington D.C. ein. Eine ihrer ersten Szenen zeigt den Neujahrsempfang der Demokratischen Partei, auf dem die politische Elite zusammengekommen ist, um gemeinsam auf den neugewählten Präsidenten Garrett Walker und zugleich auf ein erfolgreiches Jahr für die Partei anzustoßen. Der betreffende Saal ist lieblos geschmückt und nur halb gefüllt. Es wird geplaudert, gelacht, getrunken und gegessen. Inmitten dieser ausgelassenen Stimmung steht Frank Underwood, der bisherige Mehrheitsbeschaffer im Kongress, plötzlich auf und beginnt überraschend einen ausführlichen Monolog:

President-elect Garrett Walker. Do I like him? No. Do I believe in him? That’s beside the point. Any politician that gets 70 million votes has tapped into something larger than himself. Larger than even me, as much as I hate to admit it. And look at that winning smile, those trusting eyes. I latched onto him early on and made myself vital. After 22 years in congress, I can smell which way the wind is blowing.

[Frank blickt zu einem älteren Mann.]

Oh, Jim Matthews, his right honorable vice-president. Former governor of Pennsylvania. He did his duty in delivering the keystone state, bless his heart, and now they’re about to put him out to pasture. But he looks happy enough, doesn’t he? For some, it’s simply the size of the chair. Huh.

[Frank läuft durch den Saal vorbei an einer Frau, auf die er kurz deutet.]

Linda Vasquez, Walker’s chief of staff. I got her hired. She’s a woman, check, and a Latina, check, but more important than that, she’s as tough as a two-dollar steak. Check, check, check.

When it comes to the White House, you not only need the keys in your back pocket, you need the gatekeeper. As for me, I’m just a lowly house majority whip. I keep things moving in a congress choked by pettiness and lassitude. My job is to clear the pipes and keep the sludge moving. But I won’t have to be a plumber much longer. I’ve done my time. I backed the right man. Happy New Year! Give and take. Welcome to Washington.


Doch Frank Underwood hält diese Ansprache, in der er seine Einstellung zu seinen anwesenden Kollegen schonungslos offenbart, nicht für die Gäste auf der Party; nicht für die Menschen, über die er spricht. Im Gegenteil, diese reagieren nicht einmal auf seine Worte, obwohl er offensichtlich in deren Hörweite spricht. Nein, Frank Underwood hält diese Ansprache für seine Beobachtenden, die sich nicht mit ihm im Raum, sondern auf der anderen Seite befinden. Er hält sie für diejenigen Zuschauenden, die sich jenseits des Bildschirms befinden und die Serie HOUSE OF CARDS im Angebot von Netflix aufgerufen haben. Ihnen erläutert er zu Beginn der ersten Episode die Grundkonstellation und den Ausgangspunkt der sich anschließenden Handlung. Sie blickt er dabei direkt an und prostet ihnen am Ende seines Monologs siegessicher zu: „Welcome to Washington.“

Lenkung von Aufmerksamkeit
In vergleichbarer Weise wie Frank Underwood zum Publikum der Serie «House Of Cards» spricht, richtet sich das Fernsehprogramm über nahezu alle Bereiche hinweg an seine Zuschauenden und verwendet regelmäßig „Formen der direkten Adressierung, die von einer Person in Großaufnahme an die Personen gerichtet werden, die sich vor dem Fernsehgerät versammeln.“ Dieses Merkmal findet sich in Nachrichten, in Teleshoppingangeboten, in Unterhaltungsshows, in Politikmagazinen, in Ratgebersendungen, in Reality-Formaten oder Werbespots. Es lässt sich in vergangenen Konzepten wie «Einer wird gewinnen», «Dalli, Dalli» und der Programmansage ebenso beobachten wie in zeitgenössischen Produktionen wie der «heute Show», «Wer wird Millionär?», «Hart, aber fair» oder dem «ZDF Magazin Royale». Es findet Anwendung in amerikanischen Late-Night-Shows von Johnny Carson oder Jimmy Fallon, im «Schwarzen Kanal» des DDR-Fernsehens oder in den langjährigen west- bzw. später gesamtdeutschen Reihen wie «Aspekte», der «Sportschau» und dem «Wort zum Sonntag». Stets erfolgt eine „direkte Anrede, die den vermeintlichen direkten Gesprächspartner in seiner ihm zugewiesenen Rolle als Rezipient anspricht.“ Von „Nachrichtensprechern, den Magazinmoderatoren oder vereinzelt von Showmastern in ihren Sendungen“ wird das Publikum durch die Kameralinse angeschaut, zu Beginn der Sendung willkommen geheißen („Guten Abend liebe Zuschauer“) und regelmäßig darum gebeten, auch während der Werbepause dran zu bleiben oder in der nächsten Woche wieder einzuschalten.

Immer wieder haben Autor*innen Fernsehen aus filmwissenschaftlicher Sicht beschrieben und das Medium damit in die audiovisuelle Tradition des kinematographischen Verfahrens eingereiht. Zu ihnen gehört auch der britische Medienwissenschaftler John Ellis, der wesentliche Kerngedanken seiner Fernsehtheorie aus einem Vergleich mit dem (Kino-)Film ableitet. Die direkte Adressierung und die damit einhergehende Anerkennung der Anwesenheit einer Kamera stellt ihm zufolge nicht nur ein wiederkehrendes und damit kennzeichnendes Merkmal im Fernsehprogramm dar. Sie ist darüber hinaus ein Attribut, in dem sich das Fernsehbild „sehr stark von der historischen Erzählform des Films [unterscheidet], in der das Geschehen eben keine Anzeichen dafür zeigt, dass es beobachtet wird.“ Aus dieser Gegenüberstellung von Kino und Fernsehen schlussfolgert John Ellis schließlich, dass sich das Fernsehbild im Gegensatz zum (Kino-)Film mit sprachlichen Aufforderungen und einem gleichzeitig ausgeführten Blick ins Gesicht des Publikums ihm aufdrängen würde. Es müsse dies tun, so führt Ellis den Gedanken fort, weil es keine Gewissheit darüber hätte, dass es tatsächlich betrachtet wird. Die Beschaffenheit einer Kinovorführung impliziere hingegen, nur dann vorgenommen zu werden, wenn mindestens eine Person im Saal anwesend ist. Der (Kino-)Film könne sich daher seiner Beobachtung stets sicher sein und wäre auf aggressive Manöver wie eine direkte Adressierung nicht angewiesen. Er könne es sich sogar gestatten, die Anerkennung der Präsenz eines Publikums vollumfänglich zu ignorieren. Das Fernsehen aber sende seinen Bilderstrom unaufhörlich weiter, ganz gleich „ob ein bestimmter Apparat nun eingeschaltet ist oder nicht“. Erschwerend käme hinzu, dass sich aus der reinen Inbetriebnahme eines Geräts nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung ableiten lasse, dass das Fernsehbild aufmerksam verfolgt wird, denn „sehr häufig“ würde es „im Hintergrund zu anderen häuslichen Tätigkeiten laufen, ohne dass jemand zusieht.“ Als Reaktion auf diese unsichere Situation setze das Fernsehbild „über weite Strecken direkte Adressierung ein, um den Blick und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu lenken und aufrechtzuerhalten.“

Entlang der Vierten Wand
Die Frage, inwieweit ein inszeniertes Geschehen die Anwesenheit seiner Zuschauenden anerkennt, verbindet sich ebenso mit der sogenannten „Guckkastenbühne“ im Theater, die seit der italienischen Renaissance im mitteleuropäischen Raum weit verbreitet ist. Ihr Wesen beruht auf einer „prinzipiellen Zweiteilung“ des Theaterraumes, bei der „Schauspieler und Zuschauer […] konsequent und vollkommen voneinander getrennt und einander frontal gegenübergestellt“ werden. Die in der Regel rechteckige Bühne besteht dabei aus einem „Schlussprospekt“ sowie aus zwei seitlich abschließenden Kulissen. In Richtung der Zuschauenden wird der Bühnenraum durch die Verwendung von Barrieren wie Rampen, Proszenien oder Vorhängen visuell vom Publikum entfernt. Diese „architektonischen Zeichen“ erhalten in der Anordnung eine „symbolische Bedeutung“ und etablieren die imaginierte „vierte Wand“ der Bühne. Gemeint ist die Linie, die zwischen Bühne und Zuschauerraum verläuft und in der Regel weder von Zusehenden noch von Darstellenden überschritten wird, wodurch gewöhnlich die Akteure nicht in den jeweils anderen Bereich des Theatersaals eindringen. Damit einher geht häufig ein Verständnis, dass das Geschehen auf der Bühne die Reaktionen im Zuschauerraum ignoriert, wodurch sich eine Wand ausbildet, die „in eine Richtung transparent“ ist. Überträgt man dieses Modell auf das Kino- oder das Fernsehbild, entsprechen die diegetischen Räume, in denen die Spielhandlungen oder Aktionen stattfinden, der Theaterbühne, während der Kinosaal beziehungsweise die Orte, an denen sich die Fernsehenden befinden, dem Zuschauerraum des Theaters gleichkommen. Die Leinwände oder Bildschirme, die sich jeweils zwischen den Sphären befinden, stellen in diesem Aufbau ebenfalls eine Vierte Wand dar. Der Logik von John Ellis folgend offenbart sich entlang dieser Grenze und an ihrer grundsätzlichen Überwindbarkeit (oder an der Regelmäßigkeit ihrer Überwindung) eine Trennlinie zwischen fernsehhaftem Bild und (Kino-)Film. Anders als beim Film wird diese vom Fernsehbild derart periodisch, routiniert und selbstverständlich durchbrochen, dass es dieses Verfahren zu einem seiner charakteristischen Attribute und einem wesentlichen Erkennungs- oder Wesensmerkmal erhoben hat.

Scheinbar leicht lässt sich mithilfe dieses zweiteiligen Modells Fernsehhaftigkeit in Abgrenzung zum (Kino-)Film fassen und der TV-Bildschirm als medialer Antagonist zur Kinoleinwand positionieren. Dies gelingt problemfrei, solange ein Abgleich zum Film mit Fernsehshows, Nachrichtensendungen oder TV-Magazinen vorgenommen wird. Sieht das Fernsehprogramm jedoch eine Ausstrahlung von Seifenopern oder Fernsehserien wie «Breaking Bad», «Mad Men» und dem «Tatort» vor, stößt das Modell an seine Grenzen. Schließlich findet in ihnen üblicherweise keine direkte Adressierung statt und dennoch stehen sie in einer engen Beziehung zum Bereich Fernsehen. In ihnen zeigt sich, dass die Vierte Wand ebenso eine Schranke zwischen Fiktionen und nicht-fiktionalen Inhalten markieren kann und dann Spielfilme oder Serien (gänzlich unabhängig, in welchem Medium sie zu verorten sind) von Shows oder News abtrennt.

Um selbst artfremde (fiktionale) Inhalte ohne direkte Adressierungen in seinen Flow aufnehmen zu können, nutzt das Fernsehprogramm spezielle Techniken und Methoden. Eine besteht darin, betreffende Sendungen mit direkten Adressierungen zu umrahmen, die in Ansagen vor der Ausstrahlung, in den Spots und Programmtrailern der Werbepausen oder in visuellen Einblendungen während der Laufzeit formuliert werden. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Reihe «SchleFaZ: Die schlechtesten Filme aller Zeiten» dar. In ihr begrüßen Oliver Kalkofe und Peter Rütten ihr Publikum und bieten frivole Monologe, zweideutige Scherze, humoreske Erzählungen und cineastische Einleitungen mit einem direkten Blick in die Kamera dar. In solchen Sendungen werden Filme, in denen die Vierte Wand nicht durchbrochen wird, um eine direkte Ansprache ergänzt und ihnen dadurch eine Fernsehhaftigkeit auferlegt. Der nachträgliche Zusatz einer direkten Adressierung erleichtert folglich die Einverleibung fernsehfremder Elemente und deren Eingliederung in das Fernsehprogramm. Mit ihr gelingt es, Fremdkörper in einen Zustand zu überführen, der als fernsehhaft identifiziert werden kann. Die markante Natur der direkten Adressierung prägt den aufdringlichen Gesamteindruck des Fernsehens derart nachhaltig, dass dieser auch aufrechterhalten bleibt, wenn eine direkte Adressierung temporär nicht praktiziert wird.

Ein- und Ausschlüsse
Wenn sich Schauspieler Kevin Spacey als Frank Underwood in «House Of Cards» der Kamera zuwendet und seine Gedanken oder Pläne dem Publikum offenbart, orientiert er sich hierbei nicht am fernsehhaften Bild, sondern wie schon die beiden Vorlagen der Serie an Theaterstücken von William Shakespeare. Wie Spacey in einem Interview verrät, hätte man aus dem historischen Kanon neben zentralen Handlungselementen und Charakterzeichnungen insbesondere die direkte Ansprache des Publikums durch die Hauptfigur übernommen:

The great thing about the original series and Michael Dobson’s book is that they were based on Shakespeare. The direct address is absolutely ‚Richard III.‘.

So lassen sich die zentralen Passagen, mit denen der Anglistik-Professor Wolfgang Clemen den Prolog zum Drama „Richard III.“ beschreibt, nahezu unverändert auf den eingangs zitierten Redebeitrag von Frank Underwood auf dem Neujahrsempfang der demokratischen Partei übertragen.

Als ‚Eingangsmonolog‘ übernimmt er die Aufgabe, das Drama zu exponieren und dabei den Zuschauer über die Ausgangslage zu informieren, gleichzeitig aber als Selbstvorstellung und Selbstcharakterisierung des Helden zu dienen, der bei dieser Gelegenheit etwas von seinen weiteren Plänen enthüllt und uns auf die Doppelrolle, die er spielen wird, vorbereitet.

Hierbei läge, so Clemen weiter, das Schwergewicht weniger auf der Erläuterung (historischer) Fakten als vielmehr auf einer Vermittlung der „Gestalt des Titelhelden selbst, die uns hier in plastischer Lebendigkeit als unverwechselbarer Charakter entgegentritt.“ Entsprechend handle es sich bei dem Prolog weniger um einen objektiven Bericht als um eine „subjektiv gefärbte Darstellung“, in der in den „verächtlichen“ Äußerungen über andere Figuren die „hämische Art“ des Hauptprotagonisten spürbar wird. Sowohl Richard III. als auch Frank Underwood suggerieren mit ihrem Verhalten, sich dem Publikum rückhaltlos zu offenbaren, gleichwohl bleibt ihr eigentliches Hauptziel an dieser Stelle noch verborgen:

Denn von seinem auf die Krone gerichteten Machtstreben, aus dem alle anderen Verbrechen sich ableiten, ist hier noch nicht die Rede, so daß – im Gegensatz zur Tradition – die Selbstenthüllung des Schurken hier nur teilweise erfolgt.

Trotzdem sich in der Inszenierung von «House Of Cards» viele Referenzen an die Dramen des 16. Jahrhunderts finden lassen und darin womöglich die ursprüngliche Motivation der Verantwortlichen für deren Wahl zu suchen ist, führen sie dennoch dazu, dass die Serie ein Gestaltungsmittel aufgreift, das ebenso eng mit dem Fernsehbild verknüpft ist und sie in einen televisuellen Modus versetzt. Indem sich Spacey/Underwood dem Publikum zuwendet und es durch die Kameralinse ansieht, nutzt er (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) eine Technik, die John Ellis ausführlich für das Fernsehen beschreibt.

Nachrichtensprecher und Ansager sprechen direkt aus dem Bildschirm, sie imitieren den Augenkontakt alltäglicher Konversation, indem sie aus dem Bildschirm direkt herausschauen und bisweilen nieder blicken (eine bewusst entwickelte Technik).

Strukturell verwandelt sich Underwood in diesen Momenten zu einem Fernsehansager, wobei sich das Gleichnis nicht nur auf die Anordnung der Blicke beschränkt, sondern auch auf die Tatsache, dass Fernsehansagen durch Vorankündigungen geprägt sind. Beziehen sie sich bei der klassischen Programmansage auf nachfolgende Sendungen, prophezeit Underwood hingegen kommende Ereignisse, Maßnahmen und Reaktionen seiner politischen Konkurrenz.

Aus dieser Anordnung ergeben sich drei Instanzen, die unterschiedliche Zuweisungen erhalten – nämlich die von Frank Underwood (bzw. der Fernsehansager*innen), die des Publikums sowie die der übrigen Menschen, also diejenigen, die an der direkten Adressierung nicht partizipieren können, die lediglich beobachtet werden und über die von der ersten Instanz gesprochen wird. Eine solche dreigliedrige Konstellation, die aus einer direkten Adressierung des Publikums resultiert, sei gemäß John Ellis bezeichnend für das Fernsehbild, das auf diese Weise versucht, eine Beziehung mit seinen Zuschauenden aufzubauen. Demzufolge setze sich das Fernsehbild selbst in die erste Person Singular/Plural – also ins „ich“ oder „wir“ – während die Betrachtenden die zweite Person bilden würden – also das „Du“ oder „Ihr“. Daraus entstünde zwischen der ersten und zweiten Person – also zwischen dem Fernsehbild und dessen Publikum – eine Verbindung, die zusätzlich eine weitere dritte Person oder Gruppe konstituieren könne, die von der ersten und zweiten Person (gemeinsam) beobachtet und als „er“ oder „sie“ benannt wird. Dies wären „Leute, die wir uns gemeinsam mit dem Fernsehen anschauen“ und die zuweilen mit „Herablassungen, Hass, vorsätzlicher Ignoranz, Mitleid [oder] Gleichgültigkeit“ abgewertet würden. Ihre notwendige Funktion innerhalb des Beziehungsgeflechts liegt darin, einen gemeinsamen Konsens zu bestätigen, indem sie sich außerhalb dieses befinden und ihn negativ nach außen abgrenzen. Besonders wirkungsvoll erweise sich dies, wenn es sich dabei um Personen handele, die den Zuschauenden zwar (zumindest als Archetyp) geläufig sind, weil sie dem Fernsehen ständig als Anschauungsbeispiel dienen, sie sich mit ihnen dennoch nicht identifizieren wollen. Als Beispiel für eine solche Gruppe benennt Ellis ausdrücklich „Hausfrauen“. Das Fernsehbild erhalte durch das Ansprechen seines Publikums (und dem Sprechen-über-Dritte) die Fähigkeit, Gruppenzugehörigkeiten hervorzubringen und zugleich die Abwertung oder den Ausschluss von Personenkreisen zu etablieren. Anders gesagt, es suggeriert Gleichheit zwischen sich und seinen Adressierten.

Frank Underwood nimmt in «House Of Cards» zweifellos die erste Person ein und damit die Rolle der Ich-Form des Fernsehbildes, das seine Beobachtenden direkt anspricht und diese wiederum in die zweite Person versetzt. Die dritte Instanz wird in der Serie den anderen politisch Handelnden in Washington zugewiesen – den Politiker*innen, die Frank Underwood gemeinsam mit seinem Publikum beobachtet und über die er herablassend spricht. Sie bilden jene dritte Person – jene Hausfrauen – welche die Beziehung zwischen der ersten (Underwood) und zweiten (die Zuschauenden) Person verstärkt. Durch das Versetzen der anderen Politker*innen in die dritte Person, in eine Position außerhalb des gemeinsamen Konsenses, gelingt es Frank Underwood, sich von ihnen zu distanzieren, obwohl er formell selbst dieser Gruppe zuzuordnen ist. Stattdessen verbündet er sich mithilfe der direkten Adressierung mit dem Publikum gegen sie und suggeriert zwischen sich und den Zuschauenden „Gleichheit“. Unterstützend offenbart er seine Verschwörungspläne und gewährt damit einen Vertrauensvorschuss, der von den Zuschauenden damit belohnt wird, dass Underwood eben nicht der grauen Masse der austauschbaren und wenig bewundernswerten Politiker*innen zugeordnet wird. Mehr noch, das Vertrauensverhältnis zwischen Underwood und seinem Publikum ist dermaßen weitreichend, dass seine direkt adressierten Worte ohne jeglichen Zweifel geglaubt werden, obwohl für deren Echtheit keinerlei Garantien oder Absicherungen existieren.

Das ihm entgegengebrachte Vertrauen basiert ausschließlich auf der Anwendung der direkten Adressierung, ohne die es kaum denkbar wäre, die für das Funktionieren einer Serie nötigen Sympathien für einen derart skrupellosen Charakter wie Frank Underwood aufkommen zu lassen. Als emotionsarmer Betrüger, Intrigant und Mörder erfüllt Frank Underwood eigentlich die Grundkriterien eines klassischen Antagonisten oder Bösewichts, der nur deshalb als Hauptprotagonist einer Serie von den Zuschauenden akzeptiert wird, weil er mit ihnen spricht; weil er dadurch mit ihnen eine Komplizenschaft eingehen kann; weil er ein charakteristisches Gestaltungsmittel des Fernsehens nutzt.

Vorherigen Folgen:
Folge I: Warum bleiben wir so leicht bei YouTube und Netflix hängen?
Folge II: Warum beruhigen uns Serien?

Um ihre ästhetischen und strukturellen Ähnlichkeiten zum Fernsehprogramm aufzudecken, analysiert Christian Richter ausführlich mediale Inszenierungen von Netflix und YouTube. Die Schlagworte »Flow«, »Serialität«, »Liveness« und »Adressierung« dienen dabei als zentrale Orientierungshilfen. Antworten liefern etablierte Fernsehtheorien ebenso wie facettenreiche und triviale Beispiele. Diese reichen vom ZDF-Fernsehgarten und alten Horrorfilmen über den SuperBowl und einsame Bahnfahrten durch Norwegen bis zu BibisBeautyPalace und House of Cards. Am Ende schält sich ein Zustand von FERNSEHEN heraus, der als eine neue Version aufgefasst werden kann.

„FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE. Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten“ von Christian Richter.
Das komplett Buch ist erschienen bei Transcript und Amazon erhältlich.


Quellen:
House of Cards, USA 2013, Staffel 1, Folge 1 („Chapter 1“), ca. 03:10 Min.
Ellis, John: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann, Ralf et. al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (2001), S. 44 - 73.
Bleicher, Joan Kristin: Geschichte, Formen und Funktionen der Fernsehansage. In: Hickethier, Knut / Bleicher, Joan Kristin (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer. Zu Ästhetik und Design der Programmverbindungen im Fern-sehen. Hamburg: LIT Verlag (1997), S. 190.
Ebd.
Ellis (2001), S. 63ff.
Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 2 – Vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen: Gunter Narr Verlag (1999), S. 70.
von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag (1989), S. 356.
Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt Verlag (1991), S. 139.
Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand: Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Frei-burg im Breisgau: Rombach Verlag (2000), S. 88.
Zurawik, David: Kevin Spacey’s old-Hollywood values shape cutting-edge ‚House of Cards‘. In: The Baltimore Sun (Online-Ausgabe) vom 10. Februar 2014. Unter: http://articles.baltimoresun.com/2014-02-10/entertainment/bal-kevin-spacey-house-of-cards-20140208_1_cards-rdquo-cardsrdquo-kevin-spacey [aufgerufen am 21. September 2018].
Clemen, Wolfgang: Shakespeares Monologe. Ein Zugang zu seiner dramatischen Kunst. München: R. Piper GmbH & Co. KG (1985), S. 23.
Ebd., S. 25f.
Ellis (2001), S. 63ff.
04.04.2021 08:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/125817
Christian Richter

super
schade


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