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Serientäter: «Deadly Class»

Was wäre, wenn Harry Potter nicht zum Zauberer – sondern zum Killer ausgebildet worden wäre? Diese Frage scheint sich der Autor Rick Remender gestellt zu haben, als er 2014 seine hierzulande leider viel zu unbekannte Comicreihe „Deadly Class“ aufs Publikum losließ. Auf Netflix hat sich die dazugehörige TV-Serie zu einem Smashit entwickelt. Und wird doch möglicherweise nicht fortgesetzt. Wie kann das sein?

Stab

CREATORS: Miles Orion Feldsott, Rick Remender
EXECUTIVE PRODUCERS: The Russo Brothers
REGIE: Adam Kane, Lee Toland Krieger, Paco Cabeza, Anthony Leonardi III, Ami Canaan Mann, Alexis Ostrander, Wayne Yip
MUSIK: Nathan Matthew David
KAMERA: Owen McPolin, Tim Ives (eine Episode)
PRODUKTIONSDESIGN: Dustin Farrell, Caroline Hanania
KOSTÜME: Ellen Anderson, Kim Wilcox
DARSTELLER: Benjamin Wadsworth, Benedict Wong, Lana Condor, María Gabriela de Faría, Luke Tennie, Liam James, Taylor Hickson, Jack Gillett, Olivia Cheng, David Zayas, Henry Rollins
Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich recht simpel: «Deadly Class» ist keine Netflix-Produktion. Tatsächlich hat sie bereits 2018 der Nischensender Syfy in Auftrag gegeben und 2019 ausgestrahlt. Mit einem sehr mäßigen Erfolg. Möglicherweise ist «Deadly Class» der Beweis dafür, dass es heute kaum noch möglich ist, komplexe, durchgängig horizontal erzählte Geschichten in einem Wochenrhythmus im TV auszustrahlen. Horizontal meint in diesem Fall, man erzählt eine zusammenhängende Geschichte von der ersten bis zur letzten Episode (vertikales Erzählen = in sich abgeschlossene Einzelepisoden). Das Angebot an Serien, die komplett greifbar sind und den Serienhunger zufriedenstellend stillen, ist derart gewaltig, dass eine Serie wie «Deadly Class», die weder mit großen Namen noch HBO-«Westworld»-Budgets protzen kann, schlicht und ergreifend im heutigen TV-Geschäft untergeht.

Sicher gibt es Ausnahmen. Serien, die etwa mit dem Label «Star Trek» im Namen werben können. Natürlich gibt es im linearen Fernsehen jede Menge Serien, die im Wochenrhythmus ihr Publikum finden. Allerdings hat es seine Gründe, warum das Gros dieser Serien vertikal ihre Geschichten erzählen und auf der horizontalen Ebene eher zurückhaltend agieren. Im Netflix getriebenen Serienzeitalter, das damit wirbt, alles jederzeit sofort greifbar serviert zu bekommen, ist es schlicht und ergreifend unglaublich schwierig geworden, das Interesse der Zuschauerschaft an einer Serie über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht zu erhalten, wenn das Publikum gezwungen wird, einer durchgängigen Geschichte zu folgen. Warum zehn Wochen jeden Montagabend vor dem Fernsehen sitzen, wenn Netflix ähnliche Serien en bloc serviert? Wenn dann noch ein eher kleiner Sender wie Syfy als Produzent auftritt und die Serie dort ihre Erwartungen nicht erfüllen kann, ist das Schicksal dieser Serie besiegelt. Und im Fall von «Deadly Class» ist das eine regelrechte Tragödie.

Die Comics, auf denen die Serie beruht, sind in Deutschland im Verlag Cross Cult erschienen, einem Verlag, der schon mehrfach ein Näschen für hochwertige Produktionen bewiesen hat. So hat Cross Cult etwa «The Walking Dead» nach Deutschland gebracht. Wo «The Walking Dead» in seiner Papierform auch in großen Publikumsbuchhandlungen prominent platziert wird, da es nun einmal Titel sind, die weithin Interesse generieren, ist «Deadly Class» Special Interest. Was nur als bedauerlich betrachtet werden kann, denn die Serie ist fies, gemein, hintergründig, intelligent, traurig, humorvoll, ja, sie ist ein Potpourri der unterschiedlichsten Gefühlslagen. Was auch die TV-Serie so transportiert und der Trailer kaum darzustellen vermag, der «Deadly Class» als stylische Hipshit-Show verkauft – was sie nicht ist. Ja, sie ist stylish. Aber sie ist so viel mehr...



Die Handlung
Es ist 1987 und Marcus lebt auf der Straße. Er ist 16, vielleicht 17. Sein tatsächliches Alter wird nie genannt. Ein Zuhause hat er nicht, seit seine Eltern bei einem fürchterlichen Unfall ihr Leben verloren haben. Eine Selbstmörderin hat sich von einem Turm gestürzt und seine Eltern, die zufällig unterhalb dieses Turmes spazieren gingen, mit in den Tod gerissen. Ist er eh bereits ein Außenseiter, sein Vater war Nicaraguaner, seine Mutter eine weiße Amerikanerin aus Kansas, hat ihn dieses Schicksal direkt in ein Waisenhaus geführt – in dem er sechs Menschen ermordet haben soll. Er hat ein Feuer gelegt und dies hat diese Menschen mit in den Tod gerissen. Selbst wenn Marcus in ein geregeltes Leben zurückkehren wollte – die Polizei verfolgt ihn. So bleibt ihm nur ein Leben im Dunkel. Bis einige Teenager auftauchen, einige schräge Dinge um ihn herum geschehen – und er Master Lin (Benedict Wong, «Doctor Strange») gegenübersteht.

Master Lin ist der Leiter einer sehr speziellen, elitären Privatschule. Sie gibt Menschen wie Marcus die Chance, ihre sehr speziellen Talente zu verfeinern, sie zu trainieren, sie zu erweitern. Es gibt dort draußen Menschen, die ohne Sinn und Verstand morden. Aber es gibt auch jene, die das Morden zur Kunst erklärt haben, die klar fokussiert ihrem Handwerk nachgehen. Menschen, die diese Gesellschaft maßgeblich prägen. Marcus hat durch seine Tat die Aufmerksamkeit der Academy geweckt. Dass er bislang der Polizei erfolgreich aus dem Weg gehen konnte, belegt, dass er kein dummer Brandstifter ist, sondern über Talente verfügt. Nur wenige Menschen bekommen die Chance, an der Academy aufgenommen zu werden. Alles, was Marcus tun muss: Die Hand ergreifen, die ihm ausgestreckt wird.

Die Außenseiter
So also kommt Marcus an die Academy. Er findet auch schnell Freunde. Saya etwa, eine junge Japanerin, die aufgrund ihrer exorbitanten Schwertkünste zu den wichtigsten Mädchen der Schule gehören müsste, sich aber selbst eher eine Außenseiterinnenrolle zuschreibt. Oder da ist Billy, ein englischer Punk, der so gar nicht auf die Academy zu gehören zu scheint (wie auch sein bester Freund Lex, der gerne Dinge in die Luft sprengt. Gothic ist wiederum Petras Lebenselixier. Und da ist Maria. Bei der Marcus jedoch vorsichtig sein muss. Es ist offensichtlich, dass Maria Marcus sympathisch findet. Sicher auch aufgrund ihrer Herkunft: Auch Maria stammt aus Nicaragua. Vor allem aber ist sie die Freundin von Chico, dem Sohn eines Drogenkartell-Bosses - ein junger Mann, der Probleme mit den strengen Regeln der Schule hat. Zu diesen Regeln gehört, dass es keine Streitereien untereinander geben darf. Es herrscht innerhalb des Schulgeländes Respekt. Man kooperiert. Man ist eine Einheit. So erklärt dies Master Lin Marcus. Man bündelt seine Wut, aber man bündelt sie nicht, um blindwütig etwas zu erreichen. Man hinterfragt sich selbst. Man handelt überlegen.

Nun ist Master Lin natürlich Chinese – und das alles sieht auf den ersten Blick nach einem fürchterlichen Klischee aus. Der chinesische Meister, der Weisheit lebt. Die Japanerin, die mit dem Schwert kämpft. Selbst Maria, die ihr Gesicht unter der Maske der La Catrina versteckt, einer Figur, die symbolisch für den Tag der Toten in Mexiko (und darüber hinaus) geworden ist: Klischees.

Doch halt, wenn etwas falsch ist, dann das. Ja, «Deadly Class» spielt mit Klischees. Aber im Grunde nur, um diese zu brechen. Das gilt für jede einzelne Figur und nimmt in der Serie ihren Anfang mit Willie Lewis. Willie entstammt einer Vorstadtgang, schon als Kind soll er mit einem Maschinengewehr Mitglieder einer anderen Gang erschossen haben. Willie ist ein harter Hund. Theoretisch. Tatsächlich entdeckt Marcus Willies Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren darf: Willie ist – nett. Er liebt Computerspiele, Comics, ist ein guter Gesprächspartner und vor allem – ist er kein Mörder. Das, was er an der Schule vorgibt zu sein ist eine Fassade. Er ist nicht freiwillig auf der Academy. Und wenn er nicht die Rolle des harten Straßenjungen spielt, wird er die Schulzeit kaum überleben.

Denn das ist der Punkt, der frühzeitig thematisiert wird: Das, was die Akademie behauptet zu sein – ist Unsinn. Marcus erkennt dies an einem seiner ersten Tage. Es wird von Werten gesprochen, ganz so, als würden an der Academy Shaolin-Mönche ausgebildet, die die Witwen uns Waisen dieser Welt beschützen sollen. Tatsächlich aber entstammen die Jugendlichen, die hier ausgebildet werden, Mafiafamilien, Drogenkartellen, der Yakuza, ja sogar die Kinder von Nazi-Banden finden hier ihren Platz. Jugendliche, die schon von Kindheit an darauf vorbereitet werden, wichtige Rollen in den Organisationen ihrer Eltern einzunehmen. Eltern, die mit Sicherheit die Welt nicht besser machen möchten. Vor allem –> wenn an der Academy alle Jugendlichen gleich sind, warum nennt man die Jugendlichen, die keiner kriminellen Dynastie entstammen – Ratten? Es ist nicht zufällig, dass Marcus ausgerechnet in den Außenseitern Freunde findet. All das, was die Akademie behauptet zu sein – ist im Grunde ein Trugbild. Oder besser gesagt: Eine Lüge.

«Deadly Class» bewegt sich geschickt in ganz verschiedenen Genres. Als Grundlage dienen typische High School-Serien- und Filme, die immer wieder von Cliquenbildung berichten und gerade in den 1980er Jahren einige Klassiker hervorgebracht haben, die immer wieder die Außenseiter in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Daher ist es nur folgerichtig, die Serie auch in den 1980er Jahre spielen zu lassen – als eine direkte Hommage an diese Werke. Gleichzeitig ist da natürlich ein augenzwinkernder «Harry Potter»-Aspekt. Eine geheime Schule für Kinder mit besonderen Fähigkeiten – nur dass ihre speziellen Kräfte weniger magisch als mörderisch sind? Dann gibt es fast nebenher eine Serienkiller-Story, die mit den Hintergründen zum Brand in Marcus' Waisenhaus zusammenhängt, und wer es richtig schräg macht: Episode fünf, die von einer Fahrt nach Las Vegas berichtet, ist ein einziger «Fear And Loathing in Las Vegas»-Trip. Der Rahmen, der nun sämtliche Geschehnisse, Figuren, Geheimnisse miteinander in Verbindung setzt, ist schließlich der Tod eines Schülers. Er ist dazu geeignet, die Akademie zu zerreißen. Und Marcus ist an diesem Tod nicht ganz unschuldig. Allerdings ist er damit nicht alleine.

Mit Tempo
Inszeniert ist das alles mit Tempo und großartigen Figuren. An sich geschieht immer irgendetwas, das die Handlung vorantreibt. Selbst in ruhigen Momenten herrscht nie wirklich Stillstand. Freundschaften entstehen, Freundschaften zerbrechen. Ein besonderes Stilmittel sind die Rückblicke, die zum Beispiel erklären, wie einzelne Charaktere Schüler der Academy geworden sind. Diese Rückblicke sind animiert und bewegen sich im Stil der Comicvorlagen, was bedeutet: Sehr reduziert in der Bildgestaltung. Wenige Farben, keine überflüssigen Bewegungen, kaum mehr als schemenhafte Hintergründe, mit einer Fokussierung ganz auf die handelnden Figuren. So ergeben sich überraschende Schicksale – die einem jeden Charakter unerwartete Tiefe verleihen.

Im Grunde sind die zehn Episoden an maximal drei Abenden durch. Die geschliffenen Dialoge, die Action, die Irrungen und Wirrungen der Jugend, die Wendungen... Unterm Strich könnte «Deadly Class» perfekt sein, gäbe es da nicht den fetten Cliffhanger am Ende der ersten und leider auch letzten Staffel. Und nicht nur den: Ein zweiter Handlungsstrang, der sich um Master Lin dreht, bleibt vollkommen in der Luft hängen. Die Frage lautet nun: Kann man die Serie trotzdem schauen?
Die Antwort: Auf jeden Fall. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Netflix mag zwar nur die Lizenz der Serie erstanden haben, ihr (offensichtlich) großer Erfolg aber ist sicher auch dazu geeignet, in den Redaktionsetagen von Netflix einmal auszurechnen, was eine Fortsetzung wohl kosten würde. Netflix hat hier eine Serie mit dem Potenzial, ein echter Kult werden zu können, quasi aus der Ramschkiste zum Remmitendenpreis erhalten. Eine Fortsetzung nicht wenigstens anzudenken wäre pure Verschwendung.

Im Stream auf Netflix und auch auf Joyn+.
23.12.2020 13:36 Uhr Kurz-URL: qmde.de/123591
Christian Lukas

super
schade


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Tags

Deadly Class Westworld Star Trek The Walking Dead Doctor Strange Harry Potter Fear And Loathing in Las Vegas

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Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
Nr27
23.12.2020 15:29 Uhr 1
Ja, hat mir auch gut gefallen und ich hätte mich sehr über eine Fortsetzung gefreut - ich glaube aber nicht, daß es dazu noch kommen wird. Dafür ist es wohl doch zu nischig und zu durchgeknallt - aber wer "Happy!" mochte, sollte bei "Deadly Class" gut aufgehoben sein. :slightly_smiling_face:
medical_fan
23.12.2020 15:36 Uhr 2
Jetzt fast 2 Jahre später interessieren sich alle für die Serie, wäre die Aufmerksamkeit damals ach so groß gewesen wäre sie nicht eingestellt worden.



Und außerdem habe ich sie geschaut bevor sie cool und Mainstream wurde: Im Frühjahr 2019 auf dem deutschen SYFY. Pay-TV ist halt immer noch das beste. 8)
silvio.martin
23.12.2020 17:50 Uhr 3
Wow, ich bin gerade bissel platt. Es gibt tatsächlich noch Autoren hier, die man auch als solche bezeichnen kann. Danke für einen spannenden, interessanten und vor allem fehlerfreien Artikel, der offensichtlich auch noch gut recherchiert wurde. Christian, ich hoffe man liest in Zukunft öfter von Dir :)



Und zur Serie, abgedreht, brutal und extremst unterhaltsam, einfach mal was anderes, als der typische 08/15 Kram. Sehr schade, dass es wahrscheinlich keine Fortsetzung gibt.
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