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Ferdinand von Schirach

Über einen Bestseller-Autor und Quoten Star, der kein Trara um Person und Werk mag.

Gibt es solche "Hidden Stars" überhaupt? Sehr belesenen und sehr alten Menschen werden einige Beispiele aus der Vergangenheit einfallen - in einer Welt, in der Erfolg in den Medien existentiell für einen Schriftsteller sein kann, gehörte die "Äußerung aus dem Hintergrund" ohne Drang zur Prominenz aber lange nicht mehr zu den gängigen Erfolgsmodellen.

Doch der Wandlungsprozess, der unsere Medien-Landschaft seit der allgemein zugänglichen Publikationsmöglichkeit im Internet verändert, lässt nicht nur zweifelhaften Ergüssen (prominenter) Unvernunft Raum, sondern gibt auch den Stimmen selbstzweifelnder Vernunft sehr viel mehr Möglichkeiten, als aktuell genutzt werden.

Die nachfolgend skizzierte Geschichte einer "leisen" Schriftsteller-Karriere kann deshalb jedem zweifelnden Denker als nachahmenswertes Erfolgsmodell und als Aufforderung dienen:

Ein Sprössling einer bemerkenswerten Familie
Der Autor, der gemeint ist, entstammt einer Familie, die ein paar hundert Jahre viele Autoren und Theologen, Publizisten und anderweitig Kulturschaffende hervorgebracht hatte - bevor seine Großeltern in übelster Weise in den Nationalsozialismus abdrifteten.

Wenn aus einer Familie nach einem Mitunterzeichner der US-Unabhängigkeitserklärung, Historikern und Schriftstellern, dem Gründer einer der ersten Zeitschriften Europas, Intendanten (Nationaltheaters Weimar, Staatstheaters Wiesbaden), Juristen und Geschäftsleuten und immer wieder Autoren - ein NS-Reichsjugendführer hervorgeht, der sich nach dem Krieg mit Rudolf Heß und Albert Speer die wohl bekanntesten Zellen Deutschlands im Kriegsverbrechergefängnis Spandau teilte, ist das ein widerlicher Schlag gegen die Menschheit und für die Nachfahren eine oft lebenszerstörende Bürde.

Der heutige Bestseller-Autor wuchs mehr bei seinem Urgroßvater als mit den Eltern auf, seine Eltern trennten sich früh; sein Vater beging Selbstmord, bevor sein gerade erwachsener Sohn ihn kennenlernen konnte. Über das Verhältnis zu seinen Großvater äußerte sich der Autor 2011 in einem Essay im „Spiegel“, abschließend und mit Qual, weil auch er als familiär Betroffener keine besseren Antworten dazu finden konnte, wie aus einem gebildeten, belesenen, behüteten jungen Mann ein begeisterter Anhänger des Dumpfen und Lauten, von Bierkellern und Bücherverbrennungen, rasierten Stiernacken, Schlägern und Mördern werden konnte.

Aber er schreibt an gegen das dumpfe Unverständnis, die maßlose Selbstüberzeugung, den ungeheuren und ungeheuerlichen moralischen Anspruch, besser zu sein als irgendein anderes Lebewesen auf dieser Welt. Und er schreibt in seinem einzigen auch etwas persönlichen Buch "Kaffee und Zigaretten", dass er ""vielleicht auch aus Wut und Scham über die Taten und Sätze seines Großvaters der geworden sei, der er ist."

Vom Strafrechtsanwalt zum Schriftsteller
Der zurückhaltende Star wurde 1964 in München geboren, lebte ab dem 4. Lebensjahr in der Nähe von Stuttgart bei der Familie seiner Mutter und ab dem 10. Lebensjahr im Jesuiten-Kolleg St. Blasien im Südschwarzwald.

Nach dieser Kindheit und Abitur "in einem kalten, christlichen Internat" trat unser Autor sofort aus der Kirche aus. 2017 sagte er dazu, dass er die Sache mit dem Glauben für nicht ganz ungefährlich halte, weil Gläubige immer erklärten, die absolute Wahrheit zu kennen. Ihm sei das zu fremd und zu viel; die Menschlichkeit im Sinne des freien, gelassenen Geists unserer Verfassung, ihres freundlichen Menschenbilds und ihrer souveränen Toleranz solle unser "erster Kritiker und letzter Richter" sein.



Und er ging zur Bundeswehr - nicht weil er es wollte, sondern die naive Vorstellung hegte, mit dem gut gespielten Vortäuschen einer Kniekrankheit der Musterung zu entkommen (vielleicht war seine Idee auch noch ein Stück naiver, in Richtung "Bei dem Großvater wollen die mich sicher nicht in der neuen, demokratischen Armee"?)

Auch die Idee, den Grundwehrdienst durch Bewerbung zum Offiziersanwärter von 15 auf 9 Monate zu verkürzen, ging jämmerlich schief: Nach dem Einstellungstest bot man unserem Autor eine Ausbildung zum Nato-Soldaten an, mit dem für einen Schulabgänger wahrhaft fürstlichen Grundgehalt von 2400 Mark und einer verkürzten Grundausbildung von sechs Monaten in der Kölner Schule für "Personal in integrierter Verwendung".

Nach einer Woche hatte der junge Mann genug von der dumpfen, trägen, unfassbar langweiligen Ausbildung und dem lächerlichen, andauernden Herumschreien der Vorgesetzten. Er ließ sich zum einfachen Soldaten degradieren und erlebte "eine völlig verlorene Zeit".

Der künftige Bestseller-Autor absolvierte dann in Bonn ein Jurastudium und in Köln das Rechts-Referendariat, nach dem er sich in seinem 30. Lebensjahr in Berlin als Strafverteidiger niederließ. In den Folgejahren hat er über 700 Mandanten wegen ihrer Straftaten vor Gericht verteidigt, und es sollte sich bald zeigen, dass er jeden dieser Mandanten genau zu den Beweggründen seines Handelns befragt hat und jedem dieser Mandanten sehr gut zugehört hat:

Mit 45 Jahren wurde unser Autor zum Schriftsteller, wie sein Onkel und sein Bruder, sein Cousin und seine Cousine - vielleicht liegt die Schriftstellerei ja wirklich in den Genen, zumindest soweit es um das Gefühl der Verantwortung geht, an der Gestaltung und dem Fortschreiten der Gesellschaft mitzuwirken, wenn man zum Zustand dieser Gesellschaft etwas zu sagen hat.

Vom Schriftsteller und Dramatiker zum TV-Quoten-Star
Bei einem Menschen, der schon viel erlebt und viel gedacht hat und der seine Bücher und Stücke mit dem Ziel verfasst, die Schwierigkeiten seines Fachgebiets (Schuld und Sühne, Sinn und Notwendigkeit von Strafe in einer rechtsstaatlichen Verfassung) klar sauber und verständlich darzustellen, ließ der Erfolg als Schriftsteller nicht lange auf sich warten.

Schon der erste Erzählband "Verbrechen" wurde zum internationalen Bestseller, eine ununterbrochene Reihe höchst erfolgreicher Publikationen folgte:
- Schuld (2010)
- Der Fall Collini (2011)
- Carl Tohrberg (2012)
- Tabu (2013)
- Die Würde ist antastbar (2014)
- Terror (Theaterstück, 2015)
- Die Herzlichkeit der Vernunft (2017, mit Co-Autor)
- Strafe (2018)
. Kaffee und Zigaretten (2019)
- Trotzdem (2020)
- GOTT: Ein Theaterstück (2020)

Die Bücher erreichten Millionenauflagen, viele wurden verfilmt und ließen im Fernsehen die Quoten in die Höhe schnellen.

Das Theaterstück "Terror" war auf den deutschsprachigen Bühnen das meistgespielte Stück der Saison 2016/17 und zählt inzwischen (nach Aufführungen in elf Ländern) zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Bühnenwerken der Welt.

Am 17. Oktober 2016 lief eine Verfilmung des Theaterstücks Terror unter dem Namen «Terror - Ihr Urteil» in der deutschen ARD, auf ORF2 in Österreich und dem Schweizer SRF. Die Zuschauer durften erstmals seit vielen Jahren abstimmen bei diesem bisher größten Live-Experiment des deutschsprachigen Fernsehens, an den Film wurden in allen drei Ländern Diskussionen angeschlossen.

Kritiker ohne Kritik?
Diese Werke des Bestseller-Autors wurden von der großen Mehrzahl der Literatur- und Filmkritik positiv bis bewundernd beurteilt.

Bei den späteren Werken gab es auch mal Kritik - vielleicht, weil auch bei Kritikern, die sich vor allem nach dem Mehrheitsgeschmack richten, nur Lob irgendwann nicht mehr die Auflagen erhöht? Denn es handelte sich öfter um eine ganz merkwürdige Form von inhaltsloser Kritik: Wenn ein Kritiker schreibt, dass ein Roman aus Sätzen zusammengefügt sei, die aus einer Gebrauchs-Anleitung für Drehbuchschreiber kommen könnten, sagt er damit nichts anderes, als dass der Autor sein Handwerk sehr gut versteht. Und auf eine Kritik, die kurz und bündig feststellt, dass dieser Autor nicht schreiben könne, gibt es auch nur eine logische Antwort: "Dieser Kritiker kann nicht lesen.".

Ein weiterer Teil eher sachfremder Kritik kommt von "Eliten", die sich dagegen verwehren, dass "einer der ihren" (als der sich unser Autor ganz sicher nicht empfindet) dem gemeinen Volk Herrschaftswissen zugänglich machen will: Als Rechtsshow billigster Sorte kanzelte ein inzwischen pensionierter, in Amt und Äußerungen höchst umstrittener Vorsitzender-BGH-Richter die TV-Sendung «Terror - Ihr Urteil» ab - die nach Auswertung einer Fachzeitschrift der erfolgreichste ARD-Fernsehfilm des Jahres 2016 war, 2017 mit der Rose d'Or und dem Deutschen Fernsehpreis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Die unsachliche Kritik scheint Mühe zu haben mit dem Werk eines Schriftstellers, der den Wunsch, verstanden zu werden, als vernünftige Einstellung für Menschen sieht, die etwas sagen wollen. Was sicher nicht schlecht ist, weil auch die deutschen Bürger dieser distanzierten Vernunftshaltung über den Erfolg der Werke mehrheitlich beipflichten.
23.11.2020 10:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/122935
Sebastian Schmitt

super
schade

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Tags

Glauben 2021 Terror - Ihr Urteil Gott Feinde

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Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
Neo
23.11.2020 11:04 Uhr 1

Also, nee. :D



Und die Kritik an seinen Werken ist doch gerechtfertigt. Das ist halt süffige Hausfrauenliteratur (no offense to Hausfrauen), die etwas profunder ist. Damit sind v.a. die Romane gemeint.




Ich würde sagen, er sagt damit eher das Gegenteil...
Sentinel2003
03.01.2021 08:06 Uhr 2
Hat die ARD je soviel Werbung für einen Film gemacht?? Trotz dieser massiven Werbung habe ich bzll Bedürnis dazu...zumal mal wieder ein "tatort" weichen muß...
Fabian
03.01.2021 08:20 Uhr 3
Ja hat sie. Vor allem in unserem kritisierten Tagesthemen.
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