Irgendwie war es ja immer schon klar, dass Professor Boerne eines Tages in der Hölle landen würde. Doch so plötzlich, wie es geschieht, damit hat selbst der sonst nie um eine Antwort verlegene Gerichtsmediziner gerechnet. Vor allem, dass der Teufel die Gestalt Thiels hat, das geht nun wirklich zu weit. Und ja, das passiert wirklich in diesem «Tatort». Boerne stirbt und findet sich in Gegenwart des Allmächtigen wieder.
Stab
Drehbuch: Magnus Vattrodt
Regie: Max Zähle
Kamera: Frank Küpper
Szenenbild: Michaela Schumann
Schnitt: Thomas Stange
Ton: Matthias Haeb
Musik: Daniel Hoffknecht
Die Darsteller und ihre Rollen: Hauptkommissar Frank Thiel: Axel Prahl
Rechtsmediziner Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne: an Josef Liefers
Rechtsmedizinerin Silke „Alberich“ Haller: ChrisTine Urspruch
Staatsanwältin Wilhelmine Klemm: Mechthild Großmann
Taxifahrer Herbert „Vaddern“ Thiel: Claus D. Clausnitzer
Kriminalassistent Mirko Schrader: Björn Meyer
Kommissarin Nadeshda Krusenstern: Friederike Kempter
Dr. Jens Jacoby – Hans Löw
Dr. Gärtner:Sonja Baum
Dr. Martin Lauer: Sascha Nathan «Tatort»-Freunde haben in den letzten Jahren einiges an Experimenten über sich ergehen lassen müssen. Vor allem Ulrich Tukur hat in der Rolle des hessischen LKA-Beamten Murot die Sehgewohnheiten des deutschen Kriminalfilmpublikums strapaziert. 2019 steckte er in einer Zeitschleife fest und erlebte in «Murot und das Murmeltier» (http://www.quotenmeter.de/n/107266/tatort-murot-und-das-murmeltier-und-taeglich-schiesst-der-raeuber-hier) immer und immer wieder den gleichen Tag. «Im Schmerz geboren» präsentierte ein Shakespearedrama mit dem bis heute mit Abstand höchsten Bodycount der «Tatort»-Geschichte, «Angriff auf Wache 8» derweil kopierte (in einer ziemlich erbärmlichen Art) John Carpenters «Assault on Precinct 13». Murot ist sicher das extremste Beispiel für einiges, was die Zuschauerschaft in den letzten Jahren im Rahmen der Deutschen liebsten Sonntagskriminalfilmreihe erleben (oder ertragen) musste. Und nun also reiht sich auch Münster in die lange Reihe irritierender «Tatort»-Städte ein und schickt Boerne in die Hölle. Nicht literarisch, sondern ganz real.
Aber weshalb?
Der verhinderte Literat
Nun, dass es der Tod dem Herrn Professor angetan hat, ist keine Überraschung. Wäre dies nicht der Fall, hätte er kaum die Leitung der Gerichtsmedizin in Münster übernommen. Aber nur im Stillen Kämmerlein seiner Arbeit nachzugehen – das reicht dem Professor nicht mehr. Um dies Thiel, Alberich und Staatsanwältin Klemm persönlich mitzuteilen, lädt er die drei in ein gutbürgerliches Restaurant in der Müsteraner Innenstadt ein und offenbart ihnen, dass er sich für drei Monate hat beurlauben lassen. Schon morgen wird er sich in ein Häuschen in den Niederlanden einquartieren und dort ein Buch über – ganz genau – den Tod schreiben. Die Dunkelheit, das Böse, wer wäre wohl prädestinierter darüber das ultimative Werk zu verfassen als Karl-Friedrich Boerne? Kann es auf diesem Gebiet eine größere Koryphäe geben?
Natürlich hat er alles genauesten vorausgeplant und seine Stelle wird übergangsweise ein Kollege übernehmen, der einige Jahre in Brasilien gelebt hat, aber wieder in seiner deutschen Heimat arbeiten möchte. Der, Dr. Jens Jacoby mit Namen, hat eine sehr gute Bewerbung vorgelegt – und es sind ja nur drei Monate, die Münster auf ihn, Prof. Karl-Friedrich Boerne, verzichten muss.
Der Abend endet gut gelaunt, auf dem Weg zu seinem Auto jedoch stößt Boerne mit einem seltsamen Mann zusammen, der ihn den ganzen Abend bereits beobachtet hat. Boerne ist – zu Recht – über das Verhalten des Mannes irritiert; da der aber weiterzieht, misst Boerne dem Zwischenfall keine weitere Bedeutung zu. Bis er am kommenden Morgen in seinem Auto erwacht. Das mit dem Dach nach unten auf einem Acker liegt. Boerne hat einen Filmriss. Aber immerhin scheint er glimpflich davongekommen zu sein. Er befreit sich vom Gurt, krabbelt aus dem Wagen und stellt erfreut fest, dass die Feuerwehr bereits auf dem Weg ist. Warum die Feuerwehrmänner ihn aber ignorieren wird ihm erst klar, als sie „ihn“ aus dem Wagen befreien. Boerne ist nie aus dem Wagen rausgekommen. Zumindest sein Körper ist es nicht. Boerne ist ein Geist. Und als ihm dies bewusst wird, erwartet ihn auch schon der Teufel (oder zumindest ein Dämon in verwaltender Tätigkeit) - in Gestalt von Thiel! Um ihn, Prof. Boerne, in den Limbus zu führen, die Vorhölle.
Der Münsteraner «Tatort» hat schon vor Jahren die Grenze zur Komödie überschritten. Wann genau aus der humoristischen Beilage das Hauptmenü wurde, lässt sich nur schwer datieren. Von Anfang an sollten die Geschichten aus Münster mit leichter Hand auch ernste Geschichten erzählen. Die Käbbeleien zwischen Thiel und Boerne sind seit dem Start der Münsteraner Ermittlungen 2002 ein integraler Bestandteil der Reihe. Inzwischen jedoch spielen die Fälle oft kaum noch eine Rolle. Das kann gut gehen, wenn das jeweilige Drehbuch Jan-Josef Liefers und Axel Prahl die Dialoge liefert, die sie sich gegenseitig zuwerfen können. Es kann aber auch schon einmal etwas daneben gehen, wenn es den Dialogen an Spritzigkeit fehlt. So war der letzte 2019 ausgestrahlte Münsteranter «Tatort» «Väterchen Frost» schwach, fehlte es ihm doch an eben diesen Momenten, in denen Thiel und Boerne aufeinander krachen und sich wunderbarste Animositäten gegenseitig an die Köpfe werfen. Richtig ärgerlich wird «Väterchen Frost» im Nachgang, da mit diesem «Tatort» Friederike Kempter in der Rolle von Thiels Assistentin Nadeshda Krusenstern ihren Ausstand aus Münster gab – ohne, dass dies angekündigt gewesen wäre. In der Welt von Boerne und Thiel sind es die Frauen, die mit Vernunft agieren und in Thiels Welt, da war Nadeshda Krusenstern immer so etwas wie ein ruhender Pol. Sie brachte die Ruhe ins Geschehen, die dem eher impulsiven Thiel oft fehlt. Dass sie darüber hinaus auch seine manchmal „geistige Schlichtheit“ ausbügeln durfte – machte sie zu einer unverzichtbaren Figur der Serie.
© WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin Valentin Menke
Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers, rechts) findet sich im Limbus wieder. Der Herr, der hier das Sagen hat, sieht Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) zum Verwechseln ähnlich.
Und dann wurde sie im Januar 2020 als Gast im Dortmunder Improvisations-«Tatort» «Das Team», der ohne festes Drehbuch gedreht worden ist, aus der Serie regelrecht rausgeschissen. Mehr Missachtung kann man Fans nicht entgegenbringen, denn auch wenn der «Tatort» als Reihe durchaus Fans hat, die alle Filme durchleben oder durchleiden: Gerade die polarisierenden Dortmunder Ermittler haben eben nicht nur Fans, sondern auch ein Publikum, das bewusst
nicht einschaltet, wenn in der Ruhrpott-Metropole ermittelt wird. Und gerade Münster dürfte viele Fans haben, die ansonsten mit dem «Tatort» als Format nicht viel anfangen können. Nadeshda Krusenstern also ausgerechnet in fremden Gefilden aus der Serie hinauszuschreiben, ja, da darf man sich als Fernsehmacher gerne dafür loben, die Erwartungen des Publikums gebrochen, ja es schockiert zu haben. Man kann aber auch fragen, ob eine Figur, die 18 Jahre einem Ensemble angehört hat, nicht einen würdigen Abschied verdient gehabt hätte.
Der ihr immerhin in diesem «Tatort» dann doch noch zugestanden wird.
Auftritt Regisseur Max Zähle. Der 43jährige Filmemacher hat bislang keine umfangreiche Filmografie als Regisseur vorzuweisen. Da sind ein paar Episoden «Großstadtrevier», da gibt es die Tragikkomödie «Schrotten», dazu noch ein paar Auftragsarbeiten. Allerdings erhielt er 2011 für einen Kurzfilm mit dem Titel «Raju» einen Studentenoscar (Student Academy Award) in Bronze in der Kategorie Auslandsfilm. Er ist also ein Mann, der einen zweiten Blick wert ist – und der mit «Limbus» mehr als ein Bewerbungsvideo abliefert, sondern einfach alles, was er in diesem «Tatort» richtig machen kann – auch richtig macht.
Dies beginnt beim visuellen Konzept.
Boerne fährt nicht direkt in die Hölle, sondern den Limbus – die Vorhölle. Die ist ein bunkerähnlicher, brutalistischer Raum, in dessen Mitte ein Schreibtisch steht, auf dem der Limbus-Thiel seine Fälle stapelt. Es gibt Türen. Und einen alten Röhrenfernseher – aus dem aus der Hölle direkt der Kölner Karneval in die Welt getragen wird (was jeden Nicht-Karnevalisten sofort ein Lächeln ins Gesicht zaubert). In diesem Umfeld bittet der Limbus-Thiel Boerne zum Gespräch und erklärt ihm, dass die Geschäftsleitung (Begriffe wie Himmel und Hölle werden heute vermieden) die Ewigkeit in zwei Bereiche aufgeteilt hat. Den Bereich oben, Römisch I, wohin die Guten kommen. Und den Bereich unten, Römisch II, der seinerseits noch einmal aus diversen Ebenen besteht. In den Boerne nun die Ewigkeit verbringen soll. Allerdings kann er dagegen Einspruch einlegen.
Dass Boerne in diesem Umfeld nicht allzu viel Zeit verbringen will, ist klar. Nicht nur, weil das mit der Hölle ein Irrtum sein muss. Sondern auch, weil er wissen will, wer ihn warum umgebracht hat. Vor allem – da er noch gar nicht tot ist, wie ihm der Limbus-Thiel mitteilt. Die Geschäftsführung hat ihn zwar schon in den Limbus befördert, allerdings liegt der Oberwelt-Boerne tatsächlich noch im Krankenhaus. Im Koma zwar – aber eben nicht tot! Was Boerne dazu veranlasst, tatsächlich einen Weg aus dem Limbus zu suchen und zu finden. Sein Problem: Niemand sieht ihn und niemand hört ihn. So bleibt Boernes Entdeckung allen anderen, die um sein Leben bangen, verborgen – nämlich die, dass Dr. Jacoby, der am Tag seines Unfalls seinen Dienst aufnimmt, nicht Dr. Jacoby ist – sondern der Mann, der ihn umbringen wollte. Was zu einem zweiten und dritten Problem führt. Niemand weiß, dass Boerne Opfer eines Mordversuches geworden ist (alle Indizien deuten auf einen Unfall hin). Und der Hochstapler, der sich als Dr. Jacoby ausgibt, kann kein Interesse daran haben, dass Boerne am Ende noch aus dem Koma wieder erwacht.
Zum Glück ist da Thiel, der nicht glauben will, dass Boerne einen Unfall hatte (ihm schmecken einige der Indizien nicht). Zu Boernes Pech ist da der Limbus-Thiel, der ihn zurück in die Unterwelt holen muss, da Boernes astraler Aufenthalt in der Oberwelt das Gleichgewicht der Kräfte durcheinanderbringt.
Damit zurück zu Regisseur Max Zähle, der in seiner Inszenierung auf jegliche Art von Schenkelklopfern und lautem Getöse erzichtet - was die Story als solche hergäbe: Gelegenheiten bietet sich genug, denn ein Boerne als nervender Geist schreit eigentlich nach solch einem Gehabe. Nein, stattdessen setzt die Inszenierung auf leisen Humor. Einen Humor, der Platz für überraschend rührende Momente bietet, wenn etwa Silke „Alberich“ Haller all die negativen Eigenschaften Boernes aufzählt und doch zwischen den Zeilen eine große Liebe für diesen Kauz mitschwingen lässt. Ist «Limbus» einerseits eine One-Man-Show Jan-Josef Liefers, bietet Regisseur Max Zähle hier dennoch ChrisTine Urspruch einen Moment, in dem sie ihre ganze schauspielerische Klasse ausspielen darf.
Und dann ist da, dieser Spoiler muss sein (er hat keinen Einfluss auf die Kriminalhandlung), der Abschied von Nadeshda Krusenstern, der jene Würde auf den Bildschirm zaubert, auf die der Dortmunder «Tatort», die Wortwahl sei zu entschuldigen, einen fetten Haufen gesetzt hat. Einmal mehr von einem Ausflug in die Oberwelt zurück im Limbus erblickt Boerne plötzlich Nadeshda Krusenstern in diesem brutalistischen Büro. Auch sie wartet auf die Bewertung ihres Falles. Was Boerne nicht verstehen kann. Sie wartet auf die Bearbeitung? Nein, nicht sie! Die Auflösung dieser Szene, sie rührt zu Tränen. Dabei ist es richtig, dass es Boerne und nicht Thiel ist, der Nadeshda Krusenstern verabschiedet. Thiel – würde die Szenerie als emotionaler Mensch sprengen und damit doch nur den Fokus auf sich selbst richten, während Boerne die Szenerie in diesem Moment Nadeshda überlassen kann. Und natürlich hat Boerne recht. Nadeshda im Limbus? Die Geschäftsleitung hat einen Fehler gemacht. Auf Nadeshda wartet selbstverständlich die Ebene Römisch I.
Fazit
Der Rest der Geschichte – ist amüsant. Vor allem Thiels unerschütterlicher Glauben an Boerne und ein Missdeuten der Indizien, ist eine einzige Liebeserklärung.
So viel Liebe für einen wie Boerne? Ach, warum nicht?
Wie dieser «Tatort» abschließend zu bewerten ist? Eigentlich ganz einfach: Wer mit einer solchen Geschichte im Rahmen einer Reihe wie «Tatort» nichts anfangen kann, die Grundprämisse albern findet und bereits im Vorfeld weiß, sich am Ende doch nur über diesen Unsinn aufzuregen – sollte einen riesigen Bogen um diesen «Tatort» machen. Wer aber das Gespann Boerne/Thiel mag und sich eh immer schon gefragt hat, ob Boernes Überheblichkeit ihn irgendwann noch in die Hölle bringen wird – bekommt hier die Antwort und darf diesen «Tatort» aus diesem Grund auf keinen verpassen.
Das Erste strahlt «Tatort: Limbus» am Sonntag, den 8. November 2020, aus.
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