Eine schrecklich nette Familie. Und ein FIlmtitel, der sich weder gut merken, noch aussprechen lässt.
Zugegeben, der Filmtitel lässt sich schlecht merken. Das Aussprechen an der Kinokasse würde man wohl auch lieber vermeiden, und was das Wort überhaupt bedeutet, wissen wahrscheinlich auch nur die wenigsten. Und doch würde man den vielleicht skurrilsten Film des Jahres verpassen, wenn man es nicht zumindest versuchen würde. «Kajillionaire» - nach einer offiziellen Bedeutung dieses Wortes sucht man im Netz vergebens. Vermutlich ein amerikanischer Slang-Ausdruck, der gleich am Anfang des Films fällt und vermutlich jene abfällig betitelt, die so stinkreich sind, dass sie eine exakte Zahl ihres Vermögens gar nicht mehr benennen können. Der Witz dabei ist: Um die geht es gar nicht in dem Film, sondern um jene, die auf der anderen Seite der Nahrungskette stehen, um die Armen und die Ausgestoßenen, und wie sie sich in den Vereinigten Staaten dennoch über Wasser halten.
Wo gibt es was zu holen?
In Los Angeles schlagen sich Robert (Richard Jenkins), Theresa (Debra Winger) und ihre gemeinsame Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) mit allerlei Trickbetrügereien durchs Leben. Sie rauben Postfächer aus, ergaunern sich Gutscheine und Glückslose, um sie wieder zu Geld zu machen, was selten klappt, und selbst den letzten Ramsch, der ihnen unter die Finger kommt, geht wieder in den Laden zurück, wo er einst gekauft wurde, auch wenn es dafür nur wenige Dollar gibt.
Ihr nächster Clou ist eine ergaunerte Reise nach New York, um einige ihrer Koffer verschwinden zu lassen, um dafür die Versicherung abzukassieren. Auf dem Rückflug lernen sie die sympathische Melanie (Gina Rodriguez) kennen, die sie sogleich in ihren Plan einweihen. Eine willkommene Abwechslung für die Optikerin, ist sie doch ein großer Fan von «Ocean‘s 11». Robert und Theresa sind von Melanie begeistert, Old Dolio fühlt sich zurückgesetzt und erkennt, dass ihre Eltern sie mit Liebe überschüttet haben, sondern sie immer wie das Mitglied einer Bande behandelt haben. Alles, was sie ergaunerten, wurde gerecht auf drei Personen aufgeteilt. Aber das genügt Old Dolio plötzlich nicht mehr.
Kein Geld, keine Gefühle
Wie sich die Geschichte noch weiterentwickelt, ist absolut verblüffend, und das oder andere Mal fühlt man sich gar selbst um den Finger gewickelt, weil das Drehbuch so klug geschrieben ist, dass man zwar zu wissen glaubt, wie es weitergeht, und dann kommt doch alles ganz anders. Verraten sei schon mal, dass Old Dolio tatsächlich unser ganzes Mitleid verdient. Eine spröde junge Frau, die in viel zu großen Klamotten rumläuft und zu keinerlei Gefühlsregungen fähig ist und jede Berührung abwehrt. All das haben ihr ihre Eltern nie gegeben. Denn auch innerlich ist das alte Pärchen inzwischen verarmt. weil sie niemanden mehr vertrauen und sowieso nur noch an den baldigen Weltuntergang glauben.
Und hier gelangen wir zum Kern der Geschichte, auf den uns Regisseurin Miranda July («Ich und Du und alle, die wir kennen») behutsam hinführt. Soziale Verelendung führt zur emotionalen Verrohung, weil sich alles nur noch ums Geld dreht. Besonders in den USA, wo man schon lange nicht mehr vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann. Arm bleibt arm, reich wird noch reicher. «Kajillionaire» zeigt letztlich die Auswüchse einer materialistischen Gesellschaft anhand einer kleinen Familie, die ins Absonderliche abgerutscht ist. Klingt ernst, ist aber so humorvoll und entlarvend umgesetzt, dass man eine herrliche Sozialsatire erlebt, die stetig emotionaler wird, weil sich die Protagonisten entwickeln, was Hoffnungen schürt und uns den Glauben an die großen Gefühle wiedergeben könnte. Aber entlässt uns Miranda July wirklich mit so einem billigen Hollywood-Happyend?
Am Rand der Absurdität
In Wirklichkeit ist Evan Rachel Wood («Westworld») eine schöne Frau. Doch als Old Dolio beweist sie Mut, nicht zur Hässlichkeit, sondern zur Absurdität. Allein ihre schlaksige Körperhaltung und der übergroße Trainingsanzug, den sie ständig trägt, tragen dazu bei, dass man als erste Reaktion Abneigung verspürt. Doch ihre Suche nach all dem, was sie schon als Kind schmerzlich vermissen musste, öffnet einem das Herz. Gina Rodriguez («Auslöschung») muss diese Entwicklung nicht durchmachendes. Sie ist uns mit ihrer einfachen und offenen Art sofort sympathisch und scheint als Vierte im Bunde die einzige zu sein, die ‚normal‘ agiert. Nicht zu vergessen: Richard Jenkins («Shape of Water»), der zu den besten Nebendarstellern Hollywoods zählt und Debra Winger, die man kaum wiedererkannt, als Richard Geres große Liebe in «Ein Offizier und Gentleman» (1983) aber noch in Erinnerung sein könnte. In den 1980ern war sie jedenfalls ein großer Star. Schauen wir mal, welcher dieser Namen bei der nächsten Oscar-Verleihung 2021 aufgerufen wird.
Fazit: Eine Tragikomödie, die von einer Menge skurriler Einfälle lebt, dann aber immer mehr Emotionen wachrüttelt.
«Kajillionaire» ist seit Donnerstag, den 22. Oktober 2020, in den Kinos zu sehen.
23.10.2020 12:05 Uhr
Kurz-URL: qmde.de/122150
Markus Tschiedert
Leider ist Debra Winger in den letzten Jahren ja kaum noch in Erscheinung getreten! Da kann man ja fast schon sagen, dass es ein echtes Wunder wohl ist, dass Sie für diesen Film gecastet wurde!!
Und, im übrigen war Richard Jenkins in "Six Feet Under" der Vater der 3 Kinder.... ;) ( u.a. Lauren Ambrose )
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
26.10.2020 15:47 Uhr 1
Und, im übrigen war Richard Jenkins in "Six Feet Under" der Vater der 3 Kinder....