Die Musik steigert ihre Intensität und Lautstärke. Wir wissen, dass es zu Ende geht. Ein letzter Satz, ein letzter Blick, eine letzte Geste der Figur, mit der wir aus der Geschichte aussteigen. Schnitt. Abspann.
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Die jungen Liebenden stehen sich gegenüber. Sie schenkt ihm ein verschmitztes Lächeln. Sie fallen sich küssend in die Arme. Romantische Musik schwillt an. Ist dies das Ende? Nein, ist es nicht, denn wir gleiten rüber in das salzige Nass der Karibik und betrachten den verwegenen Szenendieb des Filmes, wie er sein geliebtes Schiff erblickt und an Bord gezogen wird. Frühere Wegbegleiter und frische Bekannte begrüßen ihn dreckig grinsend – ja, sie haben ihn zuvor zurückgelassen, aber ein Sinneswandel führte zu einer Wiedervereinigung.
Der trunkene, unberechenbare Pirat mit dem chaotischen Anschein und dem mehrere Schritte vorausdenkenden, dessen ungeachtet äußerst improvisationsfähigen Verstand bekommt den Kapitänsmantel umgehängt. Er geht ans Steuer. Sein Gestus wandelt sich. Bis hier hin strahlte seine Körperlichkeit eine unablässige Schlacksigkeit aus. Eine torkelnd-trunkene Armut an Kontrolle – teils gespielt, um das Gegenüber zu täuschen. Teils wahrlich sein Inneres widerspiegelnd, da er unvollständig war. Das Symbol seiner Träume, seiner Freiheit und seines ethischen Kompasses war ihm entrissen. Nun sind sie wiedervereint. Er liebkost mit einer Handbewegung das Steuerrad, sein Rückgrat begradigt sich, sein ulkiger, verschmitzter Blick weicht einer abenteuerlichen, verwegenen Zielstrebigkeit.
Er fordert, an den Horizont gebracht zu werden. Wirft einen prüfenden Blick auf den Kompass, der ihn sonst wo hinführt, jedoch nicht nach Norden. Ein Kinderlied zweckentfremdend trällert er: "Trinkt aus, Piraten, yo-ho!", lässt den Kompass zuschnappen, während er einen bestimmten Blick vorwärts wirft, die Musik im Hintergrund triumphal an Intensität gewinnt und der Schnitt zum Abspann erfolgt. Perfekt aufeinander abgestimmt, die Musik explodiert hin ins Fach der ikonischen Epik, als der erste Name die Leinwand erfüllt.
He's a Pirate!
Schnitt.
Wenn gemeinhin über einen Abspann gesprochen wird, dann, weil er aus dem Rahmen fällt und nicht einfach in Weiß auf Schwarz die Beteiligten auflistet. Wir reden über riesige Plottwists, die während des Abspanns auf uns einprasseln, wie es die Marvel Studios gelegentlich einfädeln. Wir reden über wunderschöne Zeichnungen, die non-verbal den Plot fortführen, wie in «WALL·E». Wir reden über eingeblendete Pannen vom Dreh, wie Jackie-Chan-Stuntunfälle oder Versprecher der «Bullyparade»-Gang. Oder über besonders bunte, kreative Abspannsequenzen, etwa, wenn in «The LEGO Movie 2» ein hoch ironischer Song ausgerechnet den Abspann als das Beste am Film feiert, während Klötzchen krude Nachbildungen vergangener Szenen kreieren. Oder wenn in «Ghostbusters – Answer the Call» Chris Hemsworth völlig losgelöst tanzt, während knallige Farben das restliche Bild erfüllen.
Wir reden ebenso darüber, wenn rührende finale Szenen unter den Abspann gelegt werden – wie etwa bei «Call Me By Your Name». Oder aber, wenn in «Der Herr der Ringe» mittelaltereske Zeichnungen die Stimmung des Films weiterleben lassen – und der Credit für Harvey und Bob Weinstein sowie eine arme Seele, die sich die Tafel mit den Beiden teilen muss, von der Zeichnung eines Mannes begleitet wird, der mit einer Lanze gigantische, widerliche Trolle abwehrt.
Und doch: Es benötigt keine bewegten Bilder, keine schrillen Einfälle (wie Fake-Credits, die sich in Filmen des Trios Zucker-Abrahams-Zucker während des Abspanns verstecken), um einen Abspann zu kreieren, der sich einbrennt. Ich kann das bezeugen: Die Abspannerinnerungen, zu denen ich am häufigsten zurückkehre, die Augenblicke beim Abspannanschauen, die mich am meisten bewegt haben, stammen von eher handelsüblichen oder gar durch und durch normalen End-Credits-Sequenzen. Denn es ist nicht der Abspann für sich genommen, der dieses Sitzen im Dunkeln im Kino vor vornehmlich schwarz erfüllter Leinwand zu güldenen Momenten meines Filmliebhaberdaseins geformt hat. Sondern die Sekunden davor. Es ist nicht das
Wie? des Abspanns, sondern sein
Wann?, das unbezahlbaren Wert in sich trägt.
Schnitt.
Der Publikumsliebling wurde von einem Monstrum verschluckt. Die Heldin, deren Wandlung wir eng verfolgen, hockt von Schuldgefühlen angenagt und aufgrund von Gewissensfrost schüttelnd in einer morbiden Holzhütte im Halbsumpf, sich an einen metallenen Krug klammernd. Ihr Geliebter, ihr Verlobter, ihr Beinahe-wäre-da-nicht-dieser-kapitalistische-Großkotz-von-Schurke-aufgetaucht-um-die-Zeremonie-zu-stören-Gatte … Er schenkt ihr ein von Bedauern verwässertes Lächeln und stimmt in den Nachruf des aufgrund eines Missverständnisses als ernstzunehmenden Nebenbuhler aufgefassten Verschiedenen mit ein. Wenn er könnte, würde er ihn zurückholen.
Entgegen seiner Erwartung ruft die gerade als Gastgeberin der Trauergemeinde agierende, schwarz bezahnte Voodoo-Hexe aus, dass es eine Möglichkeit gibt. Es sei möglich, den einmaligen Publikumsliebling mit den Dreadlocks und den Goldzähnen zurückzuholen. Dazu müsse man lediglich bis zum Untertitel der bereits im Dreh befindlichen Fortsetzung und darüber hinaus – und sich einem Kapitän anschließen, der sich in diesen Gewässern auskennt.
Schwere, selbstbewusste Stiefelstapfer stapfen die morschen Holztreppen hinunter. Die verwunderte Brigade an mit allen salzigen Meereswassern gewaschenen Helden, Antihelden, Opportunisten und einer moralisch über ihre Grenzen hinaus gesegelten Frau blickt gleichermaßen verwundert wie ehrfürchtig wie verdattert drein.
Umschnitt. Der Schurke des ersten Films fragt, was aus seinem Schiff geworden ist, während sein geliebter Affe auf seine Schulter springt. Er beißt genüsslich in einen extrem saftigen, grünen Apfel, dessen Saft sogleich in seinen struppigen Kinnbart sifft. Der Fiesling lacht hämisch als die Musik anschwillt. Moment, der ist doch im ersten Teil gestorben?! Verwirrung im Kinosaal. Man spürt eine elektrische Energie im Publikum. Alle sind aufgeregt und voller Spannung. Müssten wir nicht eigentlich erschrocken sein, dass der Bösewicht aus dem Erstling zurück ist? Nein, wir sind auf freudig-aufgeregte Weise voller Fragezeichen, schließlich war dieser Schurke ein extrem genüsslicher Teil seines Films – und nach dem deprimierenden Ausgang des Finalkampfes in dieser Fortsetzung ist diese perfekt inszenierte, mit diebischer Freude gespielte, unerwartete Rückkehr ein froh stimmendes Geschenk!
Harter Schnitt auf Schwarz. Noch im selben Atemzug: Die Musik explodiert, als weiße Buchstaben auf schwarzem Grund den Beginn des Abspanns markieren und das allseits beliebte, epochale, dynamische Erkennungsmotiv aus dem ersten Film aus den Boxen zimmert, das während dieses Films bisher bewusst nur spärlich eingesetzt wurde. Es ist ein beschwingter Nachklapp dieses pompösen, monumentalen und dramatischen Filmabschlusses, und dieses Mal mündet dieses piratige Motiv in ein sich panisch steigerndes, dunkleres Thema aus dem gerade endenden Film. Ein echtes Kinoerlebnis, ganz ohne die Art bunter, bewegter Bilder, für die wir ins Lichtspielhaus eingekehrt sind.
Schnitt.
Es benötigt keine bunten Bilder, keine verrückten visuellen Einfälle, kein inhaltliches Bonusmaterial, um einen Abspann unsterblich zu machen. Für immer und ewig in mein Gedächtnis zu brennen und ihn tief, tief in meinem Herzen zu verankern. Das Timing ist es. Die erzählerische und musikalische Dramaturgie, wann die Handlung endet und der Abspann auf die Leinwand brettert. Das ist es, was einem Film einen finalen, großen, unvergleichlichen Schuss Energie verleiht, dem ich mich nicht entziehen kann.
In exakt der Sekunde auf Schwarz blenden oder schneiden, in der es eine unbändige Wirkkraft hat und die Möglichkeit, ungeheuerlich nachzuhallen – kunsthandwerklich und emotional. Eine Punktlandung. Die ideale Ausfahrt nehmen. Ein logistisches Muss verwandelt sich zum schreiberisch gekonnt eingesetzten, kalligrafisch eindrucksvoll und bildschön gestalteten Ausrufezeichen. Oder Fragezeichen. Oder zum famos gewählten Dreipunkt. Es ist eine rare, besondere Kunst, die ich nicht noch energischer, passionierter feiern könnte. Und wenn dann auch noch die instrumentale Suite mitreißend geschrieben ist und genau die in mir befindlichen Emotionen kunstvoller in den Saal hinaus schallen lässt, als ich es selbst in Gedanken benennen könnte, oder aber der verwendete Song vortrefflich ausgesucht ist … Dann ist das Kunstwerk vollauf perfekt abgerundet.
Schnitt.
Der trunkene, einmalige, verwegene und vergnügliche Pirat sitzt in einer winzigen Schaluppe und summt vor sich hin. Er studiert eine sagenumwobene Karte, die ihm den Weg zu mystischen Orten und Artefakten weisen soll, darunter zu der Quelle der ewigen Jugend. Sein Kompass, der nicht nach Norden zeigt, sondern dorthin, wo sich jenes befindet, was er am meisten begehrt auf der Welt, weist hinter den seetüchtigen Plünderer und Abenteurer. Es ist eine Flasche mit erquickendem Rum, die er sogleich entkorkt, auf dass er sich den alkoholischen Trunk in die Kehle kippen kann. Sein zuvor kurz verworrenes Gesicht klart auf. Gen Horizont blickend, als sich die Kompassnadel neu ausrichtet. Dieser einst von einer Sache besessene Mantel- und Dreispitzträger ist losgelöst. Improvisiert mehr denn je in seinem Leben voll der Improvisation. Setzt sich neue Ziele, empfindet neue Begierden, gibt sich mit einem Umstand zufrieden, der ihn einst nicht zufrieden gestellt hätte.
Die Reise, die er bis hier hin tätigte, veränderte ihn, ließ ihn sich über sich hinauswachsen – und die jüngsten Entwicklungen drängten ihn dazu, sich in ein neues Boot zu setzen und ohne Altlasten dorthin zu steuern, wo er sich nunmehr Erfüllung verspricht. Und die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sein Name durch die Ewigkeit hallen wird. Auf eine Weise, die er kontrolliert. Und nicht wieder einmal angetrieben durch jemanden, der ihm schaden würde.
Die Kamera gleitet hinfort, so dass wir die Schaluppe im Wellengang vorantreiben sehen, hinein in einen atemberaubenden, malerischen Sonnenuntergang, während das verspielt erklingende Seemannsmotiv und dieses hinein gestreute, ominös-verzauberte Thema Platz machen. Platz für eben jene vorantreibenden Streicher, die schon den Abschluss der beiden Vorgängerfilme andeuteten und die Gänsehaut entstehen lassen, da wir konditioniert sind. Konditioniert, zu wissen, dass nun das immens populäre, kraftvolle Erkennungsthema ertönen wird, das sich in unsere Gehirne eingebrannt und in den vergangenen fast drei Stunden extrem rar gemacht hat. Eine Belohnung naht. Die Katharsis, triumphal diese Musik vernehmen zu dürfen. Jetzt. Gleich. Im Bruchstück eines Atemzugs.
Friedvolle, ein Weiterlaufen der liebgewonnenen Welt suggerierende Schwarzblende. Die Musik explodiert und der erste Name erfüllt die Leinwand. Wir baden uns in diesen großartigen Klängen, saugen die Assoziationen auf, die sie wecken, fühlen uns frei wie der Pirat, der niemanden mehr jagt, der von niemandem mehr gejagt wird, und der keinem Rechenschaft schuldig ist. Bis wieder diese aufpeitschenden Streicher herbei geprescht kommen, die stets so gekonnt in die Reprise einer anderen Erkennungsmelodie überleiten.
Aber dieses Mal bereiten sie keine panische Abenteuerdüsternis vor, sondern sorgen für eine klangdramatische Fallhöhe, die sich schlagartig auflösen sollte. Siegesgewisse, melodische Abenteuerromantik liegt in der akustischen Luft, als stünden wir in dieser Schaluppe, mit weit ausgebreiteten Armen, die Meeresluft einsaugend und von den kommenden, neuen Horizonten und den noch ausstehenden, schöneren Unternehmungen träumend. Auch diese Melodie plätschert aus, ehe sich ein verzücktes, verspieltes Motiv und ein großes, vom ganzen Herzen kommendes Thema voller Emotion überkreuzen, sich steigern und steigern und dann friedvoll zusammenlaufen. Vereinen. Kurze Ruhepause, ein Piratenwalzer des Widerstands geleitet uns in ausgedehnter Macht und Pracht durch den weiteren Abspann.
Die Königin wurde vom König entführt / Am Ende siegte er / Es ist vollbracht / Er hat die Macht / Uns gehört das Meer. Yo-ho, zugleich. Hisst die Flagge, zeigt sie!
Soll'n sie / Uns verdammen / Doch wir sterben nie!
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
11.10.2020 09:48 Uhr 1
Alles Gute für Euch 2!!! Antje, die ja erst vor etwa 3 Jahren (??) hier angefangen hatte zu Schreiben, hat dieser Seite echt viel frischen Wind gegeben!