Aus wahrer Geschichte wird Kinderbuch. Aus Kinderbuch wird Disney-Film: «Der einzig wahre Ivan» ist eine kleine, feine Geschichte.
Der wahre einzig wahre Ivan
Filmfacts «Der einzig wahre Ivan»
- Regie: Thea Sharrock
- Produktion: Angelina Jolie, Allison Shearmur, Brigham Taylor
- Drehbuch: Mike White; basierend auf dem Buch von K. A. Applegate
- Musik: Craig Armstrong
- Kamera: Florian Ballhaus
- Schnitt: Barney Pilling
- Laufzeit: 95 Minuten
1964 wurde ein schwächelnder Tieflandgorilla von einem Tierpfleger und seiner Familie aufgelesen und aufgepeppelt. Als er wenige Jahre später zu groß für die ihn liebende, hegende Familie wurde, bekam der Ivan getaufte Gorilla eine neue Heimat zugeteilt: Ein Shop in einem mäßig frequentierten Einkaufszentrum in der mittelgroßen Stadt Tacoma, Washington. Dort sollte der Gorilla der Bespaßung der örtlichen Bevölkerung dienen, genauso wie einige Flamingos, ein Elefantenbaby, ein Löwe, einen Seehund, ein Paar Schimpansen, ein Huhn und ein Kaninchen.
Der "B&I Circus Store" sollte erst 1987 zum Mittelpunkt einer Kontroverse über die unwürdigen Lebensumstände der dort untergebrachten Tiere werden. Sieben Jahre und eine Fernsehdokumentation später war es so weit: Ivan wurde in einen Zoo mit weitläufigem Gelände umgesiedelt.
2012 erschien ein Kinderbuch, das lose von Ivans Geschichte inspiriert ist und aus Ivans langjährigem, engen Aufenthaltsort einen kleinen Zirkus macht. Zwei Jahre später sicherte sich Walt Disney Pictures die Filmrechte an dem Stoff. Thea Sharrocks ursprünglich fürs Kino geplantes Realweltmärchen mit sprechenden Tieren erschien am 21. August 2020 in einigen Ländern auf Disney+, pünktlich zu Ivans achtem Todestag. Mittlerweile ist «Der einzig wahre Ivan» auch in Deutschland erschienen.
Ein bisschen verniedlicht, ein wenig komplizierter
Vor etwa eineinhalb Jahren brachte Disney schon einmal einen Realfilm mit computeranimierten Tieren heraus, der im Zirkusmilieu spielt und sich unter anderem damit befasst, dass Wildtiere nicht als dressierte Entertainer dienen sollten. Doch obwohl die Tiere in «Der einzig wahre Ivan» sprechen und in Tim Burtons «Dumbo» nicht, ist «Der einzig wahre Ivan» auf Handlungsebene der realistischere Film: Tiere leben in Gefangenschaft, verrichten ihren Zirkusdienst, der Zirkus verliert an Zugkraft, der Besitzer wird verzweifelter und strenger, die Tiere fühlen sich zunehmend unwohler, die Öffentlichkeit bekommt Wind davon und will etwas dagegen unternehmen. Die den Tieren in den Mund gelegten Dialoge dienen schlicht der Emotionalisierung, und ja, auch der Zugänglichmachung des Stoffs für Kinder. Es sind keine Fantasyelemente zu sehen.
Selbst wenn «Der einzig wahre Ivan» gegenüber der wahren Geschichte ausgeschmückt und kindgerecht-verdaulich umgestaltet wurde, so ist es weiterhin eine leise Geschichte über Empathie, die nicht in binären Extremen denkt. Während Burtons «Dumbo» eine sehr scharfe Linie gegen Zoos und Tiergefangenschaft generell fährt, ist «Der einzig wahre Ivan» nuancierter und somit komplexer: Der von Bryan Cranston verkörperte Zoobesitzer ist kein cartoonesker Unmensch wie der von Michael Keaton verkörperte «Dumbo»-Fiesling, und, Achtung Spoiler, «Der einzig wahre Ivan» zeichnet keine Fantasiewelt, in der Dutzende bislang in Gefangenschaft lebende Tiere plötzlich im Urwald gesund und munter durch den Tag kommen.
«Der einzig wahre Ivan» zeichnet Cranston und seine Mitarbeiter als wohlmeinende Menschen, die schlicht nicht aufgeklärt genug sind, um zu erkennen, welchen Schaden sie den Tieren zufügen, selbst wenn ihnen in offensichtlicheren Dingen das Wohl der Tiere am Herzen liegt. Und die Lösung von «Der einzig wahre Ivan» lautet nicht, Ivan von heute auf morgen in ein Flugzeug zu packen und unvorbereitet im Dschungel auszusetzen. Es kommt zur Trennung und Ivan findet ein neues, größeres, besseres Zuhause. Aber im realistischen Maße – nicht eines wie aus Tim Burtons Fantastereien.
Ich habe die Schnauze voll von Ebbe. Ich will die Flut mal wieder sehen.
Regisseurin Thea Sharrock vermittelt diese Geschichte als (für Familienfilmverhältnisse, insbesondere im Sektor der "Sprechende-Tiere-Komödie") recht leise, unaufgeregte Komödie: Es gibt kauzige Nebenfiguren wie einen sehr dickköpfigen Hund oder ein Kaninchen, das das Laufen verlernt hat und sich daher nur in einem Feuerwehrmodellauto fortbewegt. Aber schrille Gageinlagen bleiben ebenso aus wie überdramatisierte, leicht herunter zu brechende Konflikte. Wenn Ivan zum Beispiel eifersüchtig auf den neuen Star in der Manege wird, gibt es keine überdrehten Intrigen oder kindische Sabotageversuche:
Die Figuren sprechen in kurzweilig geschriebenen, dennoch emotional ehrlichen Dialogen über ihre Gefühle und versuchen, so viel wie möglich über unverfälschte, rational strukturierte Kommunikation zu lösen. Das hat für die lieben Kleinen Vorbildcharakter und verleiht dem Film für Junggebliebene eine unerwartete, direkte Herzlichkeit. Der hervorragende Stimmcast (egal ob im Original oder der deutschen Synchronfassung) ist dahingehend natürlich besonders hervorzuheben, ist er es doch, der diese Figuren beseelt. Vor allem Sam Rockwell leistet in der Titelrolle große Arbeit und macht Ivan zu einem sentimentalen, eingangs (zu) genügsamen Freund, der über sich hinauswächst und erkennt, mehr vom Leben zu wollen und einzufordern – und Dietmar Wunder überträgt Rockwells Leistung formidabel ins Deutsche.
Oberflächlich betrachtet ist «Der einzig wahre Ivan» ein schöner Film über angemessenen Umgang mit Tieren – dahinter steckt aber eine universelle Geschichte darüber, dass es ganz gleich ist, wie nett man dich anlächelt: Wenn diese Leute, die dir gegenüber einen freundlichen Tonfall hegen, dich wortwörtlich oder metaphorisch einengen und aufhalten, solltest du dir das nicht gefallen lassen. Lass den winzigen Zirkus, in dem du unter würdelosen Bedingungen nett angeguckt wirst, hinter dich, und hol dir das Umfeld, das dir zusteht.
«Der einzig wahre Ivan» ist auf Disney+ abrufbar.
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