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Die Kritiker: «1.000 Arten, Regen zu beschreiben»

Wenn man meint, sich verkriechen zu müssen: «1.000 Arten, Regen zu beschreiben» behandelt das in Japan weit verbreitete Phänomen Hikikomori.

Hinter den Kulissen

  • Regie: Isabel Prahl
  • Drehbuch: Karin Kaçi
  • Produktion: Melanie Andernach, Knut Losen
  • Musik: Volker Bertelmann aka Hauschka
  • Kamera: Andreas Köhler
  • Schnitt: Daniel Scheuch
Seit vielen Wochen ist die Tür von Mikes Zimmer zu. Der 18-Jährige hat sich eingeschlossen, rennt nur manchmal zur Toilette, wenn er sicher sein kann, dass niemand aus seiner Familie in Sichtweite ist. Mike ist nicht krank. Er hat entschieden, am Leben draußen nicht mehr teilzunehmen. Das verwundert und beunruhigt seine Eltern Susanne (Bibiana Beglau) und Thomas (Bjarne Mädel) sowie Schwester Miriam (Emma Bading). Sie kampieren wechselnd vor seiner Tür. Sie warten, fragen, fordern, flehen, rasten aus, verzweifeln, beschuldigen, ignorieren und hoffen. Sie erahnen nicht, wer sehr sie dabei ihr Verhalten in anderen Bereichen ihres Lebens spiegeln.

Je stärker sie nach Mikes Gründen forschen oder vor ihrer eigenen Ohnmacht fliehen, desto deutlicher werden Verkettungen in einem Leben, das sie nie hinterfragt haben: Miriam, hadert mit den Herausforderungen und Zumutungen des Erwachsenwerdens. Die von ihrer Arbeit verschluckten Eltern taugen nicht mehr als Vorbilder. Sie entzweien sich in ihren unterschiedlichen Reaktionen auf Mike. Wer kann zurück ins Leben finden? Und wie ist „zurück ins Leben“ zu verstehen?

«1.000 Arten, Regen zu beschreiben» von Regisseurin Isabel Prahl («Was wir wussten – Risiko Pille») und Drehbuchautorin Karin Kaçi («Goldunge») behandelt das in Japan weit verbreitete Phänomen Hikikomori, das sich seit Entwicklung dieses 2018 in die deutschen Kinos entlassenen Films auch schleichend, aber stetig in Westeuropa verbreitet. In Japan sollen bereits mehr als 1 Millionen Jugendliche wochen-, monate- und teils jahrelang beschlossen haben, sich in ihr Zimmer einzuschließen. Als mögliche Ursachen werden ein Gefühl der Überforderung, Versagensangst, und das Kapitulieren gegenüber den Erwartungen und Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens vermutet.

Doch Leistungsdruck, stetig steigende soziale Erwartungen, und eine Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten, die sich allerdings teils krass mit den Hoffnungen und Forderungen des eigenen Umfelds beißen, sind keine Gedankenplagen, die nur Menschen in der pubertierenden Selbstfindungsphase belasten. Daher ist die sehr intim erzählte, ein vermeintlich kleines Einzelschicksal skizzierende Geschichte von «1.000 Arten, Regen zu beschreiben» eine nahezu allgemeingültige Analogie – und nun, seit Corona Milliarden von Menschen weltweit dazu drängte, sich vorübergehend einzuschließen, ist sie vielleicht noch universeller geworden. Dieses Gefühl, sich verkriechen zu müssen, hat im Jahr 2020 wohl mehr Menschen (temporär) befallen als noch 2018.


Prahl versteht, dass Einsamkeit und der Akt des Verschließens keine Einbahnstraße ist: Sie baut im Laufe ihres Films Mikes Zimmertür zur sprichwörtlichen Projektionsfläche auf, die die Isolation und darüber hinaus den Kollaps von Mikes Familie widerspiegelt.

„Es ist nicht nur der Junge hinter der Tür, der an Einsamkeit krankt, sondern auch die Menschen vor der Tür“, erklärte die Filmemacherin 2018 ihre Absichten hinter der Erzählung, und da Beglau, Mädel und Bading mit einem ruhig-eindringlichen, naturalistischen Spiel in «1.000 Arten, Regen zu beschreiben» als Familie einen kühlen, unvermeidlichen Seelenstriptease hinlegen, ist ihr dies wahrlich gelungen.

Prahl wählt eine dringliche, eindrucksvolle und dennoch niemals prätentiöse, aufgesetzte Bildsprache, die zum Einfühlen in die Figuren und Nachdenken über die eigene Lage einlädt und zugleich eine spröde, kummervolle Atmosphäre mit einem winzigen, leisen Hauch der Hoffnung vermittelt.

Fazit: «1.000 Arten, Regen zu beschreiben» ist ein reduziertes, deutsches Drama, das von einer zerrissenen Familie handelt, die sich wundert, weshalb einer von ihnen sein Zimmer nicht mehr verlassen möchte. Sehr gut gespielt und einfühlsam erzählt, ist es ein sehr schöner Film, der zugleich vor Augen führt, wie vielseitig deutsche Filmkunst sein kann.

«1.000 Arten, Regen zu beschreiben» ist am 1. September 2020 ab 22.50 Uhr im Ersten zu sehen.
31.08.2020 11:54 Uhr Kurz-URL: qmde.de/121020
Sidney Schering

super
schade


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Tags

1.000 Arten Regen zu beschreiben Was wir wussten – Risiko Pille Goldunge

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
31.08.2020 19:12 Uhr 1
Es ist ganz bestimmt möglich, so wie im Falle dieser Familie, dass wegen Corona sich tatsächlich noch immer sich viele Menschen nicht raus trauen!





Zudem hat mir die eine Schwester meiner Zahnärztin gerade erst letzte Woche erzählt - aufgrund des fast normal gewordenen Verkehrs zumindest hier in der Berliner City kaum zu glauben - dass es wohl nach wie vor sehr viele Menschen gibt, die weiterhin Homeoffice betreiben!
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