Filme und Fernsehserien folgen einem klaren Muster – und das seit Jahrzehnten. Dieses Mal: All the Hugging and Learning!
Man muss lange suchen, um einen Fernsehkritiker zu finden, der dem amerikanischen Sitcom-Hit «Seinfeld» skeptisch gegenübersteht. Schließlich hat die
Show about Nothing so konsequent die Grenzen ihres Genres ausgelotet und das (damals) moderne New Yorker Großstadtleben dekonstruiert wie keine zuvor. Und doch sah der begnadete amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in ihr die Synekdoche auf einen allgemeinen Trend der angelsächsischen Sitcom-Erzählung, der ihm missfiel: die postmoderne Ironie-Maschine.
In ihrer literarischen Ausprägung ist dieses Phänomen – samt seinen überdeutlichsten Ausprägungen – vielleicht bekannter. Der Großteil der Werke von John Barth, Thomas Pynchon oder Robert Coover ergeht sich in den epochentypischen metafiktionalen Verlaufsbahnen und bemüht dekonstruierten Klischees: In Geschichten über einen Autor, der eine Geschichte schreibt über einen Autor, der eine Geschichte schreibt über einen Autor, der eine Geschichte schreibt über einen Autor, der eine Geschichte schreibt, wie in Barths „Lost in the Funhouse“. In der messerscharfen Auseinandersetzung mit der unaufhaltsamen Progression einer fiktionalen Tradition, die in einem künstlerischen Befreiungsschlag überwunden wird, bis die Revolution zur neuen Tradition wird, wie in Coovers „Pricksongs and Descants“. Oder in einer nutzlosen Reise ins Nirgendwo, dem Ersuchen von Männern hinter Vorhängen und Fäden ziehenden Puppenspielern, ohne je zu wissen, ob sie überhaupt existieren, wo jede Antwort zehn neue Fragen aufwirft und jede neue Figur zig literarische Traditionen und Klischees in sich vereint, wie in Pynchons „Crying of Lot 49“ oder seinem kaum dechiffrierbaren Weltkriegsepos „V“.
All diese Tendenzen, so Wallace, lassen sich in den meisten ambitionierten Sitcoms der 90er Jahre wiederfinden, und am deutlichsten wohl in «Seinfeld»: Mit ihrer wichtigsten Regel –
No hugging, no learning – machte sie deutlich, dass ihre Charaktere unter keinen Umständen eine relevante psychologische Weiterentwicklung erfahren durften. Das war schließlich Sinn der Sache: der Mensch im
arrested development, unfähig, sich in seiner komplexen Gesellschaft mit ihren zahllosen ungeschriebenen Regeln und Verhaltenskodexen zu orientieren, von einem Unheil zum nächsten Missverständnis taumelnd, ohne jemals eine sinnvolle, erhellende, heilende Erkenntnis daraus ziehen zu können.
Doch vielleicht –
so Will Schoder in Weiterentwicklung von Wallaces Gedanken – ist unsere Welt gar nicht so düster und sinnentleert wie in «Seinfeld», sondern so anheimelnd wie in «The Office», «Modern Family» und «Parks and Recreation». Diese stehen für den gegenläufigen Trend zur Sitcom als Ironiemaschine:
the New Sincerity, zu Deutsch etwa: die neue Ernsthaftigkeit.
Auch diese im ersten Jahrzehnt des neuen Milleniums gestarteten Comedy-Serien sind oftmals durchzogen von einer sanften bis mitunter beißenden Ironie, von metafiktionalen Selbstreferenzen, postmodernen Genremischungsspielen und Figurendekontruktionen, die spielerisch über ihre eigene Fiktionalität hinausweisen. Doch im Kern des jeweiligen Konzepts steht die gegenteilige Haltung zur Seinfeld’schen Ironiemaschine, wo die psychologische Kohärenz einer Figur gerne für einen Gag geopfert wurde, wie Darsteller Jason Alexander einmal in einem langen Interview mit dem Archive of American Television ausführte: Wenn man als Schauspieler an «Seinfeld»-Schöpfer Larry David mit einem abgedroschenen
My character would never do that herangetreten wäre, hätte der nur geantwortet:
Let’s make him.
Diese Abkehr von der Dekonstruktion einer bestimmten nihilistischen großstädtischen Lebenshaltung, deren oberste Maxime der persönliche Nichtfortschritt der Charaktere war, ermöglichte Formaten wie «Modern Family» oder «The Office» einen Blickwinkel, den Jerry Seinfeld gemieden hätte
wie ein puffiges Hemd: die sentimentale Empfindsamkeit.
Die Auflösung der Konflikte, die in Michael Scotts «Office» eine Folge durchzogen haben, verbleibt zumeist nicht auf einer ironisierenden Meta-Ebene, wo der Verstehende (Jim) am Schluss den Missverstehenden (Dwight) auslacht und sich ob seiner weit größeren sozialen Kompetenz auf die Schultern klopft. Stattdessen stoßen die Figuren – mikroskopisch auf Folgenebene wie makroskopisch über Staffeln hinweg – untereinander psychologische und pragmatische Entwicklungen an, sind ernsthaft aneinander interessiert, nehmen am Schicksal des Anderen Anteil und helfen sich wechselseitig durchs Leben.
«Parks and Recreation», das trotz aller Ironie immer mit besonderer Warmherzigkeit an seine Charaktere herantrat, hat sich sogar bewusst dazu entschieden, der am meisten belächelten und als inkompetent verschrienen Figur das schönste Privatleben von allen zu geben, während die Serie auf der vordergründigen Ebene die menschenfreundliche und optimistische Vision vertritt, wie ein rechter Libertärer und eine linksliberale Gutmenschin einander mögen und schätzen und einander stets in Aufrichtigkeit begegnen.
«Modern Family» führt derweil die enorme Pluralität des heutigen amerikanischen Familienlebens vor, mit einem ältlichen Patriarchen, der seinen schwulen Sohn über alles liebt, wo eine perfektionistische
Mom an ihrer gleichaltrigen Stiefmutter wachsen darf und der Whiskey-trinkende
Man's Man am Barbara Streisand verehrenden Gatten seines Sohnes.
Hugging, Learning and Loving, wohin das Auge reicht. Mit der amerikanischen Comedy-Serie von heute wäre David Foster Wallace wohl hochzufrieden.
Hier gibt's alle Teile der Serientheorie!
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