Basierend auf dem gleichnamigen Roman folgt das raue Drama «Nationalstraße» einem vermeintlichen Nationalhelden immer tiefer hinein in den gesellschaftlichen Abgrund.
Filmfacts: «Nationalstraße»
VÖ: 11. Juni 2020
FSK: 16
Laufzeit: 91 Min.
Genre: Drama/Komödie
Kamera: Cristian Pirjol
Buch & Regie: Stepan Altrichter
Darsteller: Hynek Cermák, Katerina Janecková, Jan Cina, Václav Neuzil, Jirí Langmajer
OT: Národní trída (CZE/DE 2019)
Jaroslav Rudiš‘ Roman „Nationalstraße“ wurde in seinem Entstehungsland Tschechien zu einem Bestseller und verkaufte sich auch hierzulande passabel. Von dem mehrfach ausgezeichneten Schriftsteller, Journalisten und Musiker stammen außerdem Werke wie „Grand Hotel“, „Die Stille in Prag“ sowie „Der Himmel unter Berlin“ – allesamt ins Deutsche übersetzt und hier in Besitz einer treuen Leserschaft. Rudiš‘ darin getätigte Beobachtungen strotzen nur so vor Authentizität. Auch der Titel-(Anti-)Held aus «Nationalstraße» vermittelt einem das Gefühl, so als Person in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem selbst zu existieren. An ihm hängt Rudiš eine Milieustudie über die tschechische Arbeiterklasse auf. Aber auch ein Drama über einen gebrochenen Nichthelden, der an seinem eigenen Anspruch, ein guter Mensch zu sein, längst zerbrochen ist. Das Schicksal wollte es eben anders.
Das klingt bisweilen wehleidig und findet in seiner hier dargebrachten Filmform auch nicht immer zum richtigen Ton. Denn vermutlich um den eigentlich knallharten Stoff ein Stückweit konsumierbarer zu machen, ist der Film zum Buch deutlich humorvoller als die Vorlage.
Vandam - Wie Jean-Claude Van Damme
Er ist ein Kind der Vorstadt und die Faust sitzt ihm locker. Seine Klappe ist gigantisch und sein Spitzname ist nicht ironisch gemeint: Vandam (Hynek Čermák). Wie Jean-Claude van Damme. Vandam hat seine Neubau-Siedlung nie verlassen und darauf ist er stolz. Sein Leben scheint ein bisschen aus der Zeit gefallen – doch globale Entwicklungen halten sich nicht an Stadtgrenzen. Immobilien-Haie haben es auf seine Lieblingskneipe abgesehen. Auf sein Revier, seine Heimat, sein Zuhause. Jetzt soll die Kneipe abgerissen und das Grundstück neu bebaut werden. Aber das ist noch nicht alles: Die Kneipe gehört der Frau, die er liebt. Irgendwie. Heimlich. Lucka (Kateřina Janečková) heißt sie. Lucka und die Kneipe sind wie ein Licht im Dunkeln – auch wenn er das so nie sagen würde. Aber ein Krieger ist ein Krieger und kämpft für das, was ihm heilig ist. Also zieht Vandam breitbeinig in die Schlacht. Er bedroht den neuen Besitzer des Grundstücks, pöbelt in dessen Firmenzentrale herum und bittet am Ende sogar seinen neureichen Bruder, mit dem er seit Jahren nicht mehr redet, um Geld. Vandam wirft alles in den Ring und sieht nicht, dass er einen Kampf führt, der schon längst entschieden ist.
Schon der Spitzname des Titelhelden ist ironisch: Vandam trägt ihn nach dem belgischen Actionstar Jean-Claude Van Damme; unter seinen Kneipenkumpels wird er buchstäblich als Nationalheld gefeiert. Der Grund: Bei der am 17. November 1989 abgehaltenen Studentendemonstration auf der Národní třída, der Nationalstraße, die später von der Polizei zerschlagen wurde und als Beginn der sogenannten „Samtenen Revolution“ (der politische Systemwechsel der Tschechoslowakei vom Realsozialismus zur Demokratie) gilt, soll Vandam zum aller ersten Schlag ausgeholt haben – und zwar auf Seiten der Polizisten, woraufhin er vom Dienst suspendiert wurde. Sein (nicht nur berufliches) Leben wurde dadurch zerstört; Trotzdem hält sein Umfeld zu ihm, feiert ihn für seine fragwürdige Tat. Gleichwohl muss sich Vandam mehrmals im Film der Frage stellen, weshalb er überhaupt zum ersten Schlag ausgeholt hat, galten die Studenten damals doch als unbewaffnet. Und weiß darauf nicht immer eine Antwort.
Mehrmals verstrickt sich Vandam im Laufe der rund 90-minütigen Handlung in Widersprüche. Ist mal stolz, mal verschämt. Immer davon abhängig, mit wem er sich gerade über seine Taten unterhält. Vor seiner Angebeteten Lucy gibt er sich fast reumütig. Gilt es, Eindruck zu schinden, zeigt er sich stolz. Nur für Einzelszenen kommt letztlich zur Geltung, was wirklich in Vandam vorgeht.
Milieustudie ohne neue Facetten
„Frieden ist nur die Pause zwischen zwei Kriegen!“ lautet einer der ersten Sätze in «Nationalstraße». Er verseucht die Atmosphäre von Anfang an; entlarvt selbst Vandams anklingend zärtliche Seite als vorgeschoben. Dabei ermöglicht die tschechisch-deutsche Koproduktion dem Zuschauer auch den Blick direkt in seine Seele. Wenn er von der Vergangenheit seines „sich die Eingeweide auskotzenden“ Vaters spricht. Wenn er mit seinem Bruder über die verlorene Kindheit zankt. Wenn er melancholisch von seinem Balkon herabblickt und sich an der Stille des Waldes labt. Die hin und wieder aus dem Off eingestreuten Gedankenfetzen machen Vandam fast zu einem Poeten. Aber eben nur fast. Denn letztlich haben seine Gedankenstränge eben doch nur die Substanz von Abreißkalendersprüchen – würden Proleten Glückskekszettel schreiben, kämen dabei vermutlich solche Textzeilen wie hier heraus.
Vandam (Hynek Čermák) hat alles gegeben und alles verloren. Aber für Leute seines Kalibers ist die Schlacht nie geschlagen.
Hinzu kommt der zwischendrin eingeschobene Humor, der sich zumeist aus der Situation heraus, nicht selten aber auch aus dem widersprüchlichen Verhalten der Hauptfigur ergibt. Dass dieser sich bei all seinem unverwundbaren Posergehabe nämlich immer auch überraschend tapsig, fast unbeholfen gibt (sofern er nicht gerade sehr routiniert die Fäuste sprechen lässt), fördert einige sehr amüsante Momente zutage.
Hynek Cermák («Stalingrad») mimt Vandam als Prototypen des innerlich verletzten Schlägermackers. Dass er in der deutschen Fassung von Adam Sandlers Stammsynchronsprecher Dietmar Wunder gesprochen wird, lässt sein Auftreten ein wenig an Sandlers Performance in «Der schwarze Diamant» erinnern. Dabei legt er nicht nur eine bemerkenswerte Physis an den Tag und zeigt sich in leidenschaftlichen Sexszenen vollkommen losgelöst von jedweder Eitelkeit. Man nimmt ihm auch die in subtilen Gesten zum Ausdruck kommende Traurigkeit, genauso wie die Glückseligkeit während der wenigen kleinen Freuden seines Lebens ab. Eine Performance, die insgesamt einen besseren Film verdient hätte. Denn nicht nur tonal setzt sich „Nationalstraße“ zwischen die Stühle. Regisseur und Drehbuchautor Štěpán Altrichter («Schmitke») hat seiner Geschichte auch einfach nicht mehr hinzuzufügen, als es Milieustudien wie der leider viel zu unbekannte «Tyrannosaur» längst eindringlicher und intensiver präsentiert haben.
Lediglich in Sachen Gewalt legt «Nationalstraße» noch eine Schippe drauf und endet schließlich konsequent zermürbend. Vor der Kulisse eines unattraktiven Tschechiens, dessen Arbeiterschicht vom Rest der Gesellschaft dauerhaft abgehängt scheint, weiß man am Ende gar nicht, was trostloser ist: die Menschen, oder die Welt, in der sie leben.
Fazit
Eine Milieustudie aus der tschechischen Arbeiterschicht – wirklich Neues hat Regisseur und Autor Štěpán Altrichter seiner Geschichte über einen innerlich zerrissenen Straßenrowdy nicht hinzuzufügen. Begeistern tut indes Hynek Cermák. Seine Performance ist preisverdächtig.
«Nationalstraße» ist ab dem 11. Juni in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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