Der «Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» aus München ist nicht nur aufgrund der hervorragenden Kameraarbeit unbedingt einen Blick wert, sondern auch sonst einer der besten ARD-Sonntagskrimis der letzten Monate.
Hinter den Kulissen
- Regie: Christopher Schier
- Drehbuch: Stefan Hafner, Thomas Weingartner
- Cast: Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Ferdinand Hofer, Laura Tonke, Victoria Mayer, Hans Löw
- Produktion: Christina Henne, Ronald Mühlfellner
- Kamera: Thomas W. Kiennast
- Musik: Markus Kienzl
- Schnitt: Nils Landmark
Die beiden Familien Kovacic und Schellenberg sind eng befreundet. Als ihr Sohn Emil (Ben Lehmann) tot aufgefunden wird, zerbricht die Welt der Kovacics. Emils Handyspur endet an einem Parkplatz, der als Treffpunkt für anonymen Sex bekannt ist. Seine Leiche wird etwa 20 Kilometer entfernt in der Isar gefunden. Wie kam der Junge dorthin und warum wurde er getötet? Da sein Handy verschwunden ist, vermutet die Polizei, dass er auf dem Parkplatz etwas Kompromittierendes gefilmt hat. So sehr in diesem verstörenden Fall ein Motiv auf der Hand zu liegen scheint, so tief ist die Wahrheit verborgen. Die Hauptkommissare Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) schlagen sich bei ihren Ermittlungen durch ein Dickicht aus Lügen und Täuschung.
Kindsmord ist harter Tobak. Selbst für die Verhältnisse in 20:15-Uhr-Krimis der öffentlich Rechtlichen. Trotzdem wird er immer mal wieder zur Ausgangslage dann besonders düsterer «Tatort»-Ausgaben, zu denen nun auch der neueste Fall der Münchener Kommissare Batic und Leitmeyr gehört. Schon die erste Kamerafahrt, für die Thomas W. Kiennast («3 Tage in Quiberon»), der hier ohnehin den Status als heimlicher Star innehat, mit beunruhigender Langsamkeit das Innere eines wohlsituierten Hauses abbildet, verseucht die Stimmung von Anfang an. Das Innenleben in den beleuchteten Fenstern ist von der Ferne aus nur schemenhaft erkennbar. Der Zuschauer wird auf Abstand gehalten. Soll nicht sehen, was hinter den hübschen, von nach Zeitschaltuhr programmierten Rasensprengern bewässerten Vorgärten vor sich geht. Denn die Idylle ist, wie so vieles an diesem «Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» nur Fassade, um menschliche Abgründe zu verbergen.
Der Fund der Leiche des jungen Emil geschieht fast beiläufig. Das große Drama ist hier nicht das Ereignis selbst, sondern die Folgen daraus. Quälend lange harrt die Kamera später auf dem schmerzverzerrten Gesicht von Emils Mutter (Laura Tonke, «Zwei im falschen Film») aus. Man mag sich einfach nicht vorstellen, was in einer Mutter vorgehen muss, die gerade ihren Sohn an ein Gewaltverbrechen verloren hat. Auch die gut befreundete Familie Schellenberg (Victoria Mayer und Hans Löw) wirkt seit dem Vorfall wie paralysiert. Gespräche am Esstisch werden plötzlich zur Geduldsprobe. Misstrauen wird allgegenwertig. Hier scheint jeder Geheimnisse zu haben. Und hinter der aufrichtigen Beileidsbekundung steckt vielleicht doch nur Höflichkeit.
Dieser Tage erscheint die vierte Staffel der erfolgreichen Netflix-Serie «Tote Mädchen lügen nicht». Diese hat sich seit der herausragenden ersten Staffel zwar von soapesken Drehbüchern verwässern lassen, doch ihre Trendsetzung im Bereich der düsteren Teendramaserien kann man der Bestselleradaption nicht absprechen. Auf einmal sprach man in Schulen und in Familien über Mobbing und Missbrauch. Und auch im «Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» sind Spurenelemente des Jugendhits zu erkennen. Zwar spielt der Krimi in nur wenigen Szenen an der Schule des verstorbenen Emil. Doch die in dunklen Farben gehaltenen Gänge und die traurigen Gesichter von Emils Mitschülern, die zwischen Schockstarre und Gleichgültigkeit chargieren, lassen Erinnerungen an die unzähligen Geheimnisse der Liberty-Highschool-Kids wach werden. Mädchen werden missbraucht, Jungen ihrer Homosexualität wegen gehänselt und junge Frauen bringen sich aus Einsamkeit um – vielleicht ist Emil etwas Ähnliches passiert? Die Grundlage für derartige Vermutungen legt der «Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» allemal.
Auch wenn die Drehbuchautoren Stefan Hafner und Thomas Weingartner (schrieben ihren ersten und bisher einzigen «Tatort» 2018 mit der Wiener Episode «Her mit der Marie!») einige potenzielle Aufklärungsansätze wie etwa einen anonymen Sextreff, in dessen Nähe die Leiche gefunden wurde, ein wenig stiefmütterlich behandeln, gleicht Regisseur Christopher Schier («Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» ist sein dritter nach dem «Tatort: Wehrlos» (2017) und dem «Tatort: Die Faust» (2018)) diese übersichtlichen Schwächen im Skript mit einer hervorragenden Inszenierung wieder aus. Seine besonders intensive Betrachtung (zwischen-)menschlicher Ausnahmesituationen schnürt einem bisweilen stärker die Kehle zu als Offensichtlichkeiten wie ein Blick auf die Kinderleiche. Kleine Gesten und Blicke betonen den Pessimismus und das Misstrauen in dieser Figurenkonstellation vermeintlich perfekter Familien, die allesamt mindestens eine Leiche im Keller zu haben scheinen.
Buchstäblich niederschmetternd ist passend dazu die Auflösung. Bereits vor ein paar Wochen entließ der Hessen-«Tatort: Die Guten und die Bösen» die Zuschauer mit einer ambivalenten Aussage über Schuld und Unschuld in den wohlverdienten Krimi-Feierabend. Die Macher von «Lass den Mond am Himmel stehen» legen für ihr Finale nochmal eine Schippe drauf und liefern dem Publikum ein betontes Anti-Happy-End an die Hand, das aus keiner Perspektive positiv zu bewerten ist. Es gibt keine Genugtuung für die Opfer, keine Strafe für den Täter und damit auch nichts, was einem nach so einer Schreckenstat wie einem Kindsmord Hoffnung für eine Zukunft geben könnte. Das macht den jüngsten «Tatort» auf tragische Weise zu einem, der den Zeitgeist trifft. Die Welt im Krimi ist hier genauso verkommen wie die Realität.
Fazit
Der mit Abstand beste «Tatort» seit Monaten, der das Publikum nicht nur mit einer hervorragenden Inszenierung unterhält, sondern mit einem moralisch ambivalenten Mordfall besonders fordert.
Das Erste zeigt den «Tatort: Lass den Mond am Himmel stehen» am Sonntag, den 7. Juni um 20:15 Uhr.
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