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Die Kritiker: «Laim und der letzte Schuldige»

"Es geht hier um Kindesmissbrauch", lautet die permanente Überbetonung der allgemeinen Entrüstung. Dabei hätte dieser Film sogar eine erstaunlich interessante Figur zu bieten...

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Max Simonischek als Lukas Laim
Gerhard Wittmann als Anton Simhandl
Sophie von Kessel als Sandra Rutkowski
Roeland Wiesnekker als Roland Gachleitner
Marie Anne Fliegel als Laims Tante Valerie
Felix Hellmann als Markus Kerber
Katharina Pichler als Harriet Meyer-Ammersfeld

Hinter der Kamera:
Produktion: Network Movie Film- und Fernsehproduktion GmbH
Drehbuch: Christoph Darnstädt
Regie: Michael Schneider
Kamera: Andreas Zickgraf
Produzent: Wolfgang Cimera
Wer sich über längere Zeit eine hohe Dosis an deutschen Fernsehkrimis zuführt, erkennt irgendwann: Es gibt kaum einen guten, in dem der Satz „Es geht hier um Mord“ fällt – und kaum einen schlechten, in dem er unterbleibt. Denn diese fünf Worte tauchen fast immer am toten Punkt des Drehbuchs auf, und werden zumeist von inkompetenten Polizisten gesprochen, die ermittlungstaktisch am Ende der Fahnenstange angelangt sind. Dieser Satz soll suggerieren, dass das gesamte Konstrukt der zivilisatorischen Errungenschaften aus Abwehrrechten gegen den Staat, Augenhöhe zwischen Beschuldigtem und Ermittlungsbehörden sowie einer ruhigen Professionalität von Polizei und Staatsanwaltschaft vor dem Ungeheuerlichen zurückzutreten hat: Soweit der Konsens zwischen den Ermittlerfiguren, Krimiautoren und Berieselungszuschauern.

«Laim und der letzte Schuldige» ersetzt das Wort „Mord“ durch „Kindesmissbrauch“ und trägt es eineinhalb Stunden lang wie eine Monstranz vor sich her, nachdem Polizistin Rutkowski (Sophie von Kessel) einen kleinen halbnackten Jungen aus dem Spind eines beleibten und geliebten Operntenors befreit hat. Als der auf dem Weg zum Peterwagen unverhofft von einem Unbekannten totgeschossen wird, fordert dies auch Mordkommissar Lukas Laim (Max Simonischek) auf den Plan, gegenüber dem seine Kollegin sofort ihre Claims absteckt: Es geht hier um Kindesmissbrauch.

Das Problem: Dieser Film denkt nur in Klischees, die von Laims kulturtuender Oma auf die Spitze getrieben werden. Pädophilie steht für sie (und ein bisschen auch in der Haltung des Films) in einer Reihe mit (anderen) normabweichenden Gepflogenheiten, die elitären Hochkulturschaffenden gerne zugeschrieben werden: Exzentrisch, Künstler, pädophil – das gehört hier genauso zusammen wie Bauarbeiter, Betonmischer und Bierflasche oder Arabisch, Aggressiv und Antiliberal.

Während man sich als Zuschauer noch etwas davor ekelt, dass sich dieser Film unterschwellig die Haltung seiner Figuren zu Eigen macht, die in (O-Ton:) Kinderfickerei wenig mehr als die Kulmination von etwas sonderbaren künstlerischen Lebensgewohnheiten sehen (und damit alle exzentrischen Operntenöre in dieses Licht rücken), tritt zur Ehrenrettung Roeland Wiesnekker auf, dessen Roland Gachleitner als Hausmeister eines altmodischen Knabeninternats Jungen zum Missbrauch an die Münchener Oper vermittelt hat.

Wenn man sich diesen bärigen Gachleitner nun als hinterhältigen, perversen, menschenverachtenden, gewinnsüchtigen, abstoßenden und lieblosen Psychopathen vorstellt, ist man allerdings auf einem Irrweg. Denn mit dieser Figur erlaubt sich der Film etwas, das er sonst in allen anderen Szenen meidet wie Lukas Laim das scharfe Rasiermesser: psychologische Komplexität. Gachleitners irgendwie hehre und dabei ziemlich denkfaul ausgedachte Motive (Geldsorgen wegen seiner sterbenskranken Frau) sind nur ein Nebenaspekt. Entscheidend ist, wie angenehm fragil das Drehbuch von Christoph Darnstädt und Wiesnekker als begnadeter Darsteller ihre Figur führen: Gachleitner ist ein Meister des Wegschauens, des Sich-selbst-Betrügens, des inneren Herunterspielens, der vorgeschobenen Selbstrechtfertigungen, des ständigen Mit-sich-Haderns, der nie versiegenden, erdrückenden Schuldgefühle. Denkt man das konsequent weiter, hockt am Ende des Gedankengangs Peter Lorre in einem Berliner Keller, schleudert schier veitstanzartig seinen Körper durch den schummerigen Bildausschnitt und schreit sich jahrelang angestaute Autoaggression aus dem Leib. Noch achtzig Jahre später wird er dafür bewundert als einer der größten Schauspieler, den Deutschland je hervorgebracht hat – und Regisseur Fritz Langs frühe Regiearbeit als eine der glänzendsten in der gesamten Filmgeschichte.

Doch «Laim und der letzte Schuldige» will nicht konsequent weiterdenken, man will sich noch nicht einmal mehr als nötig auf diesen Roland Gachleitner einlassen. Der Pädophilenvermittler mit menschlichem Antlitz, das kann diese Produktion nur in Ansätzen zulassen, um ihre Entrüstungsdramaturgie nicht zu gefährden. Denn spätestens wenn Sophie von Kessel als selbstgefällige Kindesmissbrauchsexpertin zur nächsten süffisanten Tirade vom „hätten wissen können“ ansetzt, ist all die ambivalente, menschliche, psychologische Komplexität dahin, und das inhaltlich nutzlose Pathos ist wieder allgemeiner Konsens. Es geht schließlich um Kindesmissbrauch.

Das ZDF zeigt «Laim und der letzte Schuldige» am Montag, den 18. Mai um 20.15 Uhr.
18.05.2020 06:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/118415
Julian Miller

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Laim und der letzte Schuldige

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