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«Free European Song Contest»: «Bundesvision Song Contest» updated

Stefan Raabs «ESC»-Ersatzveranstaltung, die sich letztlich mit einer offiziellen «ESC»-Ersatzveranstaltung duellierte, war zügig produzierte Musikunterhaltung unter Corona-Bedingungen. Mit viel Raab-Humor. Und mit einer bekannten Masche.

Wenn es als einzige Lösung einer Krise erscheint aufzugeben, dann ist der beste Zeitpunkt für die Geburtsstunde von etwas Neuem. Etwas, das den Blick nach vorne richtet und aus der Not eine Tugend macht. Etwas, das Spaß, Leidenschaft und Optimismus vermittelt. Das ist der «Free ESC».
Stefan Raab darüber, weshalb er den «Free ESC» ins Leben gerufen hat
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt und drittens kommt es noch anderserer als man dächte. Oder so in der Art: Noch Anfang März war geplant, dass am 16. Mai 2020 das große «Eurovision Song Contest»-Finale stattfindet. Dann aber nahm die Corona-Pandemie derartige Ausmaße an, dass die EBU beim diesjährigen «ESC» den Stecker gezogen hat. Daraufhin kam es Schlag auf Schlag: Am 31. März teilte ProSieben mit, dass ein von Stefan Raab produzierter Ersatz stattfinden wird – der «Free European Song Contest», oder kurz: «Free ESC». Kurzzeitig dachte der Münchener Sender, damit die einzige große Musikshow an diesem Datum im deutschen Fernsehen auf Sendung zu schicken.

Dann aber kündigte die EBU zügig an, ebenfalls eine Ersatzveranstaltung auf die Bühne zu bringen – auch wenn sich Das Erste anfangs nicht all zu überzeugt zeigte. Seither ist der "offizielle Ersatz" in Sachen Aufwand angewachsen: Das Erste rief ein "deutsches Finale" ins Leben, im Anschluss daran wurde «Eurovision: Europe Shine a Light» eingeplant, eine Liveshow aus Hilversum, Niederlande. ProSieben wiederum fuhr aufgrund der wachsenden Konkurrenz auf dem "richtigen" «ESC»-Sender auch schwerere Geschütze auf, um mediale Aufmerksamkeit auf sein Format zu lenken:

Die Teilnehmer am «Free ESC» wurden in einer Salamitaktik nur nach und nach veröffentlicht, wobei der deutsche Slot bis zur letzten Sekunde geheim blieb und erst mit der Ankündigung um etwa 22.13 Uhr enthüllt wurde. Das trieb die Erwartungen im Netz in die Höhe – und verschaffte dem «Free ESC»-Gratiswerbung in Form zahlreicher Spekulationsartikel auf Medien-Fachportalen, lokalen und überregionalen Nachrichtenseiten. Alles schien recht, wenn es Augen auf ProSieben lenkt. Aber was haben diese Augen zu sehen bekommen? So gesehen einen (noch stärker) auf «ESC» gebürsteten, aktualisierten (und coronatauglich produzierten) «Bundesvision Song Contest». Man erinnert sich? Stefan Raabs zuletzt 2015 abgehaltener, innerdeutscher Musikwettstreit? Lief zwischendurch nur noch passabel, bevor die letzte Ausgabe das Quotenniveau wieder nach oben riss ...

Wie beim «BuViSoCo» traten auch beim ersten «Free ESC» 16 Künstler auf. Wie beim «BuViSoCo» wurde vor jedem Beitrag ein schnippisch-alberner Einspieler gezeigt, der nichts mit der Seriosität und dem zwischen Tourismus-Werbevideo und Poesie schwankenden visuellen Stil der «ESC»-Vorstellungsvideos zu tun hat. Stattdessen gab es Running Gags, den immer selben Aufbau des Erzählerkommentars (eingesprochen von "der «TV total»-Stimme") und schnippisch-blödelige Gags. Sowie kurze, komische TV- und Webschnippsel (oftmals schon aus «TV total» bekannt). Und wie schon der «BuViSoCo» ist auch das «Free ESC»-Debüt primär ein Schaulaufen deutscher Radio-Interpreten – von "Nicht mehr so ganz Geheimtipp, aber auch noch längst kein geläufiger Name" bis hin zu lang etabliertem, erfolgreichem Act.

Aber, bedingt durch die Produktionsbedingungen und den kurzen Produktionsvorlauf, lassen sich auch einige große Unterschiede festhalten. Teils positiv, teils negativ. Die positiven zuerst: Im Laufe der «BuViSoCo»-Ära auf ProSieben hatte es sich eingeschliffen, dass die Show daran krankte, dass sie zwar einerseits als jährliches Musikevent eines musikvernarrten Entertainers und Produzenten groß aufgeblasen und zelebriert wurde – diese Aufmachung aber an einem Aspekt fatal scheiterte. Denn die «BuViSoCo»-Nummern waren schlussendlich (anders als beim «ESC») keine extra komponierten Songs, sondern irgendwelche halb-aktuellen Popnummern – mitunter schon durchgenudelte Airplay-Chartstürmer.

Das führte dazu, dass sich die groß beworbene, mit Aufwand betriebene und (abseits der Vorstellungsvideos) mit viel Ernst umgesetzte Show letztlich nur wie ein ein unnötig langgezogener Rückblick auf die teils längst platt getretenen, deutschsprachigen Musikereignisse der letzten paar Wochen anfühlte. Das konnte der «Free ESC» umgehen: Manche Songs waren noch super frisch, und sie alle wurden erst während der Show als der «Free ESC»-Beitrag des jeweiligen Landes enthüllt – damit wirkte das alles neuer und überraschender.

Und noch ein Pluspunkt: Dieser "Joah, das sind halt aktuelle, schon bestens bekannte Nummern, hier sind sie noch einmal"-Aspekt führte dazu, dass der «BuViSoCo» seinem Status als große Arena-Liveshow nicht gerecht wurde. Der «Free ESC» hingegen fand coronabedingt auf deutlich kleinerer Bühne statt – und hat dadurch enorm gewonnen: Ein modernes, dennoch übersichtliches Studio und eine wandelbare Showbühne, auf der mit starkem Lichtdesign und stets hervorragend auf den Song passenden LED-Wand-Animationen für Atmosphäre gesorgt wurde, verpassten dem neuen ProSieben-Musikwettstreit ein sehr überzeugendes visuelles Gewand. Nicht größer, als es ist, aber dynamischer, schnittiger, als in Corona-Zeiten von Studioshows gewohnt. Modern, aber nicht anbiedernd. Einfach stark.

Trotzdem befindet sich die Show noch deutlich in der Findungsphase: Einerseits ist man mit dem Anspruch angetreten, einen ernstzunehmenden «ESC»-Ersatz zu erschaffen, der zudem das Zeug dazu hat, jährlich fortgeführt zu werden, selbst wenn kein «ESC»-Ersatz mehr benötigt wird. Andererseits stellte man auch den Anspruch, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine direkte Verbindung zu dem Land haben, für das sie antreten – sie sollen selber dort herkommen oder dort ihre Familienwurzeln haben. So weit, so okay. Doch dann kündigt man während der Show an, dass neben den 15 zuvor mitgeteilten Ländern außerdem der Mond antritt und durch Max Mutzke in seiner «The Masked Singer»-Astronautenrolle vertreten wird – durchaus eine charmant-lustige Idee, aber halt auch ein klarer Fall von "Ich mache mir die Regelwelt, wie sie mir gefällt."

Und dann halt noch das Abstimmungsergebnis: Es setzte sich aus 13 Einzelmeinungen von Promis und Verwandten des Teilnehmerfelds zusammen sowie aus den Telefon- und SMS-Votings des TV-Publikums aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Fernsehpublikum stimmte unisono für den Mond (drei Mal zwölf Punkte), aber weil die Jurys aus den anderen Ländern mehrheitlich Spanien besser fanden, gewann Nico Santos den Abend. Nun sind Differenzen zwischen Jury- und Televotes ein oft besprochenes «ESC»-Dauerärgernis, aber es macht eben doch einen Unterschied, ob das TV-Publikum aus ganz Europa 50 Prozent der Macht hat, oder ob das Fernsehpublikum aus allen Ländern, für die der «Free ESC» relevant ist, weniger als ein Sechstel der Abstimmungsgewalt hat. Das ist, betrachtet man es nett, eine undurchdachte, ungewollte Farce. Oder es ist, will man gemein sein, kurz vor Abzocke.

Wollen ProSieben und Stefan Raab den «Free ESC» dauerhaft etablieren, muss sich daran etwas ändern. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie sehr eine derart stark beim «ESC» abgekupferte, letztlich aber halt deutlich kleinere, weniger internationale Show überhaupt funktioniert, wenn das Original wieder in voller Stärke stattfindet.

Eine Möglichkeit wäre, sowohl im Marketing als auch in der Showpräsentation weniger den Anschein zu erwecken, eine echteeuropäische Veranstaltung zu sein, sondern ein Format darzustellen, das repräsentiert, welche Vielfalt im deutschsprachigen Raum vorherrscht – sowohl musikalisch als auch hinsichtlich der Familen-Ursprünge unserer Stars. Dann wäre man ein moderner, auf das teils arg forcierte Bundeslandgrenzenziehenkonzept verzichtender «BuViSoCo», der stattdessen das feiert, was uns die AfD nehmen will. Und man wäre eben nicht "«ESC» light".

Aber es wird sich eh noch zeigen müssen, wie sehr sich das Fernsehpublikum noch für einen zweiten «Free ESC» motivieren lässt. Denn nach erneuter, gezielter Geheimniskrämerei und absichtlich entfachten Spekulationen über eine Rückkehr Stefan Raabs war der deutsche, erst in der letzten Sekunde enthüllte Interpret Helge Schneider. Und in dem Moment kippte in den sozialen Netzwerken schlagartig die Akzeptanz der Show, weil sich viele um ein Raab-Comeback betrogen fühlten. Wie lange dieser Nachgeschmack bei verprellten Fans anhält, lässt sich natürlich noch nicht abschätzen.



Viel Raab-Humor war trotzdem geboten, den schon erwähnten Einspielern sei es gedankt. Das, kombiniert mit der «TV total»-Hausband, den Heavytones, als Studioband und einem Sounddesign, das eh durch und durch nach Raab-Produktion klang, sorgte für eine wohlige Show-Nostalgie (wenn man denn lange und gern die Raab-Arbeiten verfolgt hat). Auch wenn die Vorstellungsvideos schon einige Gags aufgewiesen haben, die nicht etwa dieses Retro-Feeling hatten, sondern eher eine ranzig-abgestandene Beinote. Einmal kann man das vielleicht als "Komm, heute ist wie vor fünf Jahren"-Event machen, ob der Trick 2021 wieder funktioniert … Nunja …

Das heimliche Highlight war dann sowieso etwas, das gar nicht zur Show gehörte: Die wiederkehrende Netflix-Werbung. Als Showsponsor sicherte sich der Video-on-Demand-Dienst zahlreiche Werbepositionen – und schürte clever Spannung. Zunächst wurde nur die Nahaufnahme eines rhythmisch atmenden Mundes gezeigt. Kryptisch, einprägsam, nicht zuzuordnen. Diese Clips wurden länger, blieben aber uneindeutig. Erst in einem Ein-Spot-Break direkt vor dem Auftritt des Astronauten wurde mit offenen Karten gespielt und ein schnittiger Trailer für Will Ferrells lang gehegtes Passionsprojekt enthüllt – eine Filmkomödie über den «Eurovision Song Contest». Nach dieser Enthüllung folgten weitere, immer absurdere Clips rund um ihn und seinen Co-Star Rachel McAdams. Am 26. Juni 2020 geht der Film « EurovisionSong Contest: The Story of Fire Saga» bei Netflix online – und nach dieser gelungenen Werbung sollte ihm viel Aufmerksamkeit sicher sein.



Dass aber der Werbepartner das heimliche Highlight stellt, lässt leider tief blicken. Als zügig auf die Beine gestellte Musikshow, die ein noch größeres, aber geplatztes Event ersetzen soll, war der «Free European Song Contest» in seiner Debütform toll produzierte Ablenkung mit ein paar Schönheitsfehlern und so manchen, dringlichen Fragezeichen in Sachen Konzept. Will man ihn dauerhaft als jährliches Event steigen lassen, braucht es aber mehr als ein "Gut dafür, wie wenig Zeit man hatte". Man braucht dann einfach Mehr. Mehr Konzept. Mehr eigene Identität abseits der im Netz eh nur für Unmut sorgenden "Kommt Raab etwa dieses Mal wirklich zurück?!"-Andeutungen. Und deutlich mehr Hand und Fuß bei den Voting-Regeln.
17.05.2020 01:05 Uhr Kurz-URL: qmde.de/118404
Sidney Schering

super
schade

83 %
17 %

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Tags

ESC Free European Song Contest Free ESC Eurovision: Europe Shine a Light Bundesvision Song Contest BuViSoCo TV total The Masked Singer Eurovision Song Contest

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Es gibt 11 Kommentare zum Artikel
Kaffeesachse
17.05.2020 09:15 Uhr 9
Für die Kürze der Zeit war das doch ordentlich gemachte Unterhaltung. Beim Voting wollte man sicher das Punktevergabe-Feeling herstellen. Ich fand das auch im Groben okay, dass die Wertung größtenteils eher subjektiv ist, wurde ja auch gesagt.



Was hätte man denn stattdessen machen sollen? Man hätte evtl. maximal 3 Punktevergaben gehabt. Man hätte halt das Zuschauervoting höher gewichten sollen, das war wohl nicht so ganz bis zum Ende durchdacht.
Anonymous
17.05.2020 09:29 Uhr 10


Finde ich eine gute Idee. So, wie Raab beim "BuViSoCo" quasi gesagt hat "Ich pfeife auf diese lächerliche Regel, dass man nicht für sein Land anrufen kann!" hätte man gestern sagen können "Wir haben entschieden, dass die drei Länder, in denen die meisten Leute mit abgestimmt haben, auch XY Prozent zum Endergebnis beitragen. Wir haben live mitgezählt und diese drei Länder sind .... Moment, man sagt es mir gerade ... *fingeraufdenknopfimohrhalt* DIE SCHWEIZ, ÖSTERREICH und DEUTSCHLAND! Was für eine Überraschung! Der Empfang auf dem Mond war wohl zu schlecht, schade aber auch!"
Der Clown
17.05.2020 11:35 Uhr 11
Es war halt Unterhaltung auf Privatfernseh-Niveau, nicht mehr, nicht weniger. Und typisch Raab. Heavytones, Gätjen, die Einspieler-Stimme, selbst Helge - absolute Raab-Handschrift und sowas von 2000er-Jahre :) Gut inszeniert, keine Frage, Moderatorenduo harmonisch weil neckisch, schöne Videowall und Sounddesign, auch nette Pop-Nummern dabei -- und dann kommt der Privatfernseh-Hammer: deutsche C-Promis mit Migrationshintergrund. Wenn ich ESC auch nur im Namen lese, brauch ich persönlich keine Youtube-Content-Creator, keine Alessio-Mütter, keine Autoball-Lenker und keine Schlager-Sport-BHs. Da trennte sich dann auch direkt die Spreu vom Weizen und man konnte den Unterschied sehen und vor allem hören: deutsche vs. englische Lieder. Das beste deutsche Lied noch der Ösi, weil eingängiger Refrain.



Ich habe mich dann gefragt, wie sich eine niederländische, echte ESC-Zweitplatzierte, die bei der ESC-Ausfallshow mit Michael Schulte "Ein bisschen Frieden" im Duett im Hague gesungen hat, vorkommen muss, wenn auf Pro7 vor der Punktevergabe noch ein Teddy mit "Deutschland isch stabil" um die Ecke kommt (obwohl das auch nicht schlecht war :) ). Und apropos Punktevergabe: Privatpunkte aus der Webcam ? Für die Türkei hat man echt keinen anderen als einen Arbeitsverweigerer aus Italien gefunden ? Und spätestens bei der Schalte aus L. A. war ich dann auch raus. Zuviel Fremdschämerei.



Ich sage nicht, dass es schlecht oder nicht gut war. Es war Unterhaltung. Aber wenn ich ESC im Namen habe, verlange ich persönlich mehr Seriosität. Vielleicht bin ich da auch zu naiv, dass von Pro7 und Raab zu verlangen. Zum Glück gab es dafür das Gegenprogramm in der ARD. Und zum Glück gibt es diesen 1-Klick-Button auf der Fernbedienung zum Zappen.
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