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Die Kritiker: «Tatort - Borowski und der Fluch der weißen Möwe»

Eine Polizeischülerin ersticht vor versammelte Kollegschaft ihren Kollegen. War es geplanter Mord oder steckt etwas anderes dahinter? Borowski ermittelt.

Hinter den Kulissen

  • Regie: Hüseyin Tabak
  • Drehbuch: Eva Zahn, Volker A. Zahn
  • Cast: Axel Milberg, Almila Bagriacik, Soma Pysall, Enno Trebs, Caro Cult, Sahin Eryilmaz, Louis Held, Kida Khodr Ramadan
  • Produktion: Kerstin Ramcke
  • Kamera: Lukas Gnaiger
  • Musik: Judit Varga
  • Schnitt: Jochen Retter
Während eines Workshops, den Kommissar Borowski (Axel Milberg) und seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) an einer Polizeischule abhalten, kommt es zu einem fatalen Zwischenfall: Völlig unvorhersehbar sticht während einer praktischen Übung die Polizeischülerin Nasrin Erkmen (Soma Pysall) auf ihren Mitschüler und flüchtigen Bekannten Sandro (Louis Held) ein. Dieser erliegt wenig später seinen Verletzungen. Der Fall sorgt für öffentliche Empörung. Fragen nach den Gründen ihres Tuns prallen an Nasrin ab – sie kann sich an nichts erinnern. Für Tobias Engel (Enno Trebs), Nasrins Freund und ebenfalls Teilnehmer an dem Workshop, bricht eine Welt zusammen. Es stellt sich heraus, dass Nasrin und Jule (Caro Cult), eine junge Frau, die sich kurz vor der Tat vor Tobias’ Augen von einem Hochhaus gestürzt hatte, einmal enge Freundinnen waren. Nasrin wollte Polizistin werden und Jule war durch den Kontakt mit Drogen sozial abgerutscht. Ob ihr Suizid etwas mit Nasrins Bluttat zu tun hat?

Die ersten Minuten des neuen Kieler-«Tatort» sind nicht bloß für die handelnden Filmfiguren eine nervenaufreibende Berg- und Talfahrt, sondern auch für den Zuschauer selbst. Während sich die Auszubildenden an der Kieler Polizeischule erst im Rahmen einer Fahrstunde ein paar Frotzeleien über die Funksprecher liefern und anschließend mal so richtig aufs Gas drücken dürfen, werden sie im nächsten Moment mit der Situation konfrontiert, was passiert, wenn sie den Selbstmord einer jungen Frau eben nicht verhindern können. Trauer, Trauma, Verzweiflung folgen direkt auf Spaß und Heiterheit. Für den Zuschauer ist das mit Blick auf die Qualität genau andersrum. Dieser bekommt in «Borowski und der Fluch der weißen Möwe» erst einen inszenatorischen Auftakt nach deutschen 20:15-Uhr-Krimi-Konventionen präsentiert, wenn die Selbstmörderin Jule zu Rapzeilen wie „Und wenn ich falle, will ich wie die Sonne untergehen“ ihre Totentanz auf einem Hochhausdach vollzieht, eh sie sich schließlich vor den Augen der Polizeianwärterinnen und -Anwärter in die Tiefe stürzt. Auch die zu Beginn des Films ungelenken Versuche in Jugendsprech wirken eher aufgesetzt als lebensecht; und der «Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe» so ganz und gar nicht „zeitgemäß“, wie es sogar im offiziellen Presseheft der ARD heißt, sondern mindestens ein paar Jahre hintendran.

Doch Jules Verzweiflungstat erweist sich bloß als der emotionale Auftakt eines eigentlich ganz woanders verorteten Films. Zum einen lässt sich der «Tatort» direkt nach dem Todessprung in deutlich tristere, nicht mehr ganz so holzhammerhaft inszenierte Gefilde nieder, wenn sich die Schülerinnen und Schüler plötzlich damit auseinandersetzen müssen, dass sie nun mal nicht jeden Menschen retten können, selbst wenn sie nur wenige Meter von ihnen trennt. Zum anderen ist der eigentlich in «Borowski und der Fluch der weißen Möwe» verhandelte Kriminalfall ein Gewaltverbrechen im Affekt, wenn die junge Polizeischülerin Nasrin ihren Kollegen Sandro bei einer Übung plötzlich mit einem Schraubenzieher niedersticht. Fortan geht es nicht um die Frage nach dem „Wer?“, sondern nach dem „Warum?“ – zumal sich die Täterin nicht an ihr Handeln erinnern kann.

Dass der Suizid vom Beginn und Nasrins Tat vermutlich irgendwie zusammenhängen, daraus macht das Drehbuch von Eva und Volker A. Zahn (schrieben zuletzt etwa gemeinsam das Skript zum TV-Film «Risiko Pille») von Anfang an keinen Hehl. Zu prominent wird die Verzweiflungstat in den Mittelpunkt gerückt, zu deutlich Jules Gesicht gezeigt und die Umstände ihrer Tat angedeutet, als dass man so eine Szene nur nutzen würde, um die Figuren und ihre durch die äußerem Umstände der Polizei beeinflusste, emotionale Wankelmütigkeit zu betonen. Es stellt sich also die Frage: Was hatten Nasrin und Jule vor dem Tötungs- respektive Selbstmorddelikt miteinander zu tun? Wie bedingte das eine das andere? Und sind möglicherweise auch Nasrins Kollegen irgendwie in die Ereignisse verstrickt?

Wo es zunächst so ausschaut, als würde sich «Tatort: Der Fluch der weißen Möwe» eher weniger auf das gängige Whodunit-Schema verlassen (einfach, weil ja längst klar ist, wer Sandro erstochen hat), offenbaren sich mit der Zeit doch die gängigen «Tatort»-Versatzstücke, wenn es sukzessive darum geht, weniger Nasrins denn vielmehr Jules Beweggründe nachzuvollziehen. Wenngleich Regisseur Hüseyin Tabak («Das Pferd auf dem Balkon») an seiner schlicht-kühlen Inszenierung festlegt, was er nur in vereinzelten Szenen durchbricht, um mit Anleihen an das Horrorkino den emotionalen Ausnahmezustand der Täterin zu bebildern, begibt er sich erzählerisch in immer weniger aufgeregte Gefilde. Nach etwa der Hälfte sind sämtliche Figuren auf dem Spielfeld positioniert; der Weg hin zur Auflösung ist dann leider nicht mehr ansatzweise so spannend wie die vielversprechende erste Hälfte, in der man Schläfer-Theorien noch für ebenso möglich halten konnte wie psychische Erkrankungen als Auslöser für Nasrins Verhalten.

Durchgehend zu gefallen wissen indes die Darsteller. Auch wenn es schade ist, dass «Bibi und Tina»-Star Louis Held das Schicksal des Tötungsopfers ereilt, überzeugt insbesondere Newcomerin Soma Pysall («Huck») als schwer gebeutelte, junge Frau, deren ambivalente Performance es dem Zuschauer nicht leicht macht, hinter ihre Beweggründe zu steigen. War sie auf einem persönlichen Rachefeldzug und nutzt nun die vermeintliche Gedächtnislücke als Verteidigungsstrategie? Oder hat Nasrin wirklich keinerlei Erinnerung mehr an die Geschehnisse? Zumindest ihre Darbietung hätte einem Hinauszögern der Antwort locker standgehalten. Der eigentliche Kommissar rückt in «Borowski und der Fluch der weißen Möwe» (die symbolische Bedeutung des leider eher mangelhaft animierten Seevogels hat sich uns übrigens nicht erschlossen) eher in den Hintergrund der jungen Verdächtigen, vor allem aber seiner Kollegin Mila. Axel Milberg («Meister des Todes») gibt sich hier mit der Rolle der guten Seele zufrieden; etwas, was ihm gut zu Gesicht steht.

Fazit


Eine Geschichte mit einer vielversprechenden ersten Hälfte, die in der zweiten den Konventionen zum Opfer fällt. Trotzdem besitzt der «Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe» noch einige weitere Attribute eines insgesamt soliden Sonntagabend-Krimis.

Die ARD zeigt den «Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe» am Sonntag, den 10. Mai um 20:15 Uhr.
09.05.2020 10:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/118077
Antje Wessels

super
schade

54 %
46 %

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Tags

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