Filmemacher lieben Außenseiter. Einen Helden in Silberner Rüstung in den Kampf gegen das Böse zu schicken, das kann jeder. Aber das Schicksal einer ganzen Welt in die Hände eines Jungen zu legen, der kaum ein Schwert halten kann: Solch eine Geschichte schreit förmlich nach einer Verfilmung. «Der Brief an den König» ist ein niederländischer Jugendbuchklassiker, der genau eine solche Geschichte erzählt. Netflix hat eine Serie daraus gemacht.
Stab
- Darsteller: Amir Wilson, Ruby Ashbourne Serkis, Gijs Blom, Islam Bouakkaz, Thaddea Graham, Jonah Lees, Jack Barton
- Drehbuch: William Davis (Adaption)
- Regie: Alex Holmes, Felix Thompson
- Produktion: Chris Clark
- Musik: Brandon Campbell
- Kamera: Petra Korner, Larr Smith
- Schnitt: O.N. Ottey, Jesse Parker
In den Niederlanden kennt wahrscheinlich jedes Kind «Der Brief an den König». 1962 als «De brief voor de Koning» erschienen, hat sich der Roman, der seit 1977 auch in deutschen Übersetzung vorliegt, zu einem Klassiker der niederländischen Jugendbuchliteratur entwickelt. Die Autorin, Tonke Dragt, geboren als Tochter eines Kolonialbeamten im heutigen Indonesien, wurde als Kind während des Zweiten Weltkrieges von der japanischen Besatzungsmacht interniert. Um dem Schrecken zu entkommen, begann sie sich kleine Geschichten auszudenken, in deren Mittelpunkt immer wieder Außenseiter standen. Wenn schon die Helden nicht in der Lage waren, die Welt zum Guten zu verändern, vielleicht waren dann ja die Kinder dazu in der Lage.
Von diesem Geist ist auch «Der Brief an den König» durchzogen. Hier sind eigentlich alle Jugendlichen Außenseiter, im Mittelpunkt aber steht Tiuri.
Der Adoptivsohn
In der Netflix-Verfilmung wird dieses Außenseitertum noch dadurch hervorgehoben, dass Tiuri dunkelhäutig ist. Tiuri ist der Adoptivsohn des edlen Ritters Lord Tiuri dem Tapferen. Woher er und seine Mutter stammen, das bleibt erst einmal ein Geheimnis. Doch sie mussten ihre Heimat verlassen und Lord Tiuri hat ihnen nicht nur eine neue Heimat gegeben, er hat Tiuris Mutter auch geheiratet und TiurisMutter liebt ihren Mann von ganzen Herzen. Die Beziehung zwischen Sohn und Stiefvater ist jedoch schwierig. Einer alten Tradition nach senden die Adligen ihre Kinder zu einem Turnier, das die Sieger von ihnen als Ritter verlassen werden. In der Familie der Tiuris gab es seit Jahrhunderten keine Lücke: Die Tiuris sind ein stolzes Rittergeschlecht. Das Problem ist: Tiuri ist einfach kein Krieger. Sein Kampflehrer mag ihm noch so viel Hoffnungen machen, doch ob am Schwert oder ab der Lanze: Tiuri kann es einfach nicht. Dass sein Adoptivvater darüber hinaus Druck auf ihn ausübt, macht die Sache nicht einfacher für ihn. Er weiß nicht, dass dein Adoptivvater, sobald hinter Tiuris Rücken über ihn gelacht wird, seinen Sohn ohne Wenn und Aber verteidigt und durchaus auch schon einmal die Fäuste sprechen lässt. Sein Sohn mag kein begnadeter Krieger sein, aber sein Sohn, sagt er voller Stolz, verfügt über Anstand, Respekt und ein großes Herzen. Eigenschaften, die nur die besten Ritter ihr eigen nennen.
Dass Tiuri beim Turnier in einem von drei Kämpfen sogar einen Gegner bezwingt, gibt ihm einen ungeheuren Auftrieb. Leider verliert er den zweiten Kampf, im dritten jedoch schickt er durchaus überraschend seinen Gegner zu Boden. Tiuri – der Ritter? Nicht ganz, denn sein Vater hat seinen Gegner bestochen. Was nicht unentdeckt bleibt. Zwar nimmt Tiuri an der abschließenden Endprüfung teil, seine Mitstreiter aber verachten ihn für seinen gekauften Sieg. Dass Tiuri selbst unglücklich ist, dass er so etwas nie gewollt hat: Interessiert die anderen nicht. Die Prüfung führt alle Turniersieger in eine Totengruft, in der sie eine Nacht verbringen müssen, ohne von den Geistern der alte Ritter in den Wahnsinn getrieben zu werden. Sie müssen im Gebet verbleiben. Scheitert einer, scheitern alle.
Der Hilfeschrei
Als es in dieser Nacht an der Tür klopf und ein Mann um Hilfe schreit, ist es Tiuri, der gegen die Auflage, nicht hinauszugehen, verstößt. So findet er den Schwarzen Ritter mit dem weißen Gesicht, einen der edelsten und tapfersten Ritter überhaupt, im Sterben vor. Bevor er stirbt, übergibt er Tiuri einen Brief an den König. An den Rändern des Reichen hat Prinz Viridian Truppen zusammengezogen und begonnen, das Reich mit seinen Roten Rittern zu unterjochen. Jahrhunderte des Friedens stehen auf dem Spiel, wenn der Brief nicht den König erreicht. Wer sich wohl in dieser Nacht auf ein Pferd setzen mag, um dem König den Brief zu überbringen?
Die Verfilmung von «Der Brief an den König» richtet sich an ein eher jüngeres Publikum. Zwar bleiben Härten nicht ungezeigt, doch wenn ein Schwert in den Brustkorb eines Ritters fährt, bleibt dies eine ziemlich aseptische Angelegenheit. Der Fokus liegt auf die jugendlichen angehenden Ritter, die zunächst allesamt nicht gut auf Tiuri zu sprechen sind, haben sie doch ihre Ansprüche an einen Titel durch sein Handeln eingebüßt. So wird seine erste echte Verbündete die Diebin Lavinia, wie er eine Außenseiterin.
Nun mag «Der Brief an den König» in einer Fantasy-Welt spielen, doch so nah, wie sie am europäischen Mittelalter angelehnt ist, hat dies den Machern die Möglichkeit eröffnet, an realen Orten zu drehen. So etwa befinden sich die zu sehenden Burgen allesamt in Tschechien. Die weiten Landschaften, die es zu durchqueren gilt, die findet man natürlich in Neuseeland, dem Fantasy-Drehort seit Peter Jackson hier Hobbits und Orks durch Wald und Wiesen gescheucht hat. Darüber hinaus wurde filmisches Know-how aus den Niederlanden, Großbritannien und Kanada in die Produktion eingebracht. Netflix hat wirklich eine internationale Produktion auf die Beine gestellt. Schade, dass man dies nur bedingt sieht.
«Der Brief an den König» könnte auch eine ZDF-Produktion sein, vielleicht mit flämischen Koproduzenten. Ein kleines, grenzüberschreitendes Projekt, bei dem zwei Sender die Lasten auf zwei Schultern verteilen. Niemand erwartet von einer Serie wie «Der Brief an den König» ein neues «Game of Thrones». Das wäre grotesk. Aber Netflix hat nun einmal gewisse Standards gesetzt. Vielleicht hat der Streamingdienst seine Zuschauer auch einfach ein bisschen zu sehr verwöhnt, so dass die fehlenden Schauwerte in einer Serie wie «Der Brief an den König» um so mehr ins Auge fallen. Das alles ist ohne Fehl und Tadel inszeniert. Die Kamera wackelt nicht, die Ausleuchtung ist in Ordnung, die Spezialeffekte sind okay, die Kostüme erfüllen ihren Zweck. Doch das alles ist eben nur nett anzuschauen. Es fehlen eben doch Schauwerte. Nett ist eben nicht groß.
Was dann auch für die Geschichte gilt. Tiuri ist kein unsypathischer junger Held. Aber einer Figur wie Tiuri fehlt es eben auch an Widersprüchlichkeiten. Er ist der Außenseiter vom Dienst, der Junge, dem niemand etwas zutraut und der im Laufe der Geschichte über sich hinauswachsen muss. Auch die anderen jungen angehenden Rittersleut erfüllen am Ende nur die ihnen vorgegebenen Jobs. Da ist die taffe Jungkriegerin, die sich gegen die jungen Männer durchsetzen muss. Da ist der Sohn des Oberintriganten im Hintergrund (von dem man immerhin nicht genau weiß, ob er seinem Vater nacheifert – oder ob da nicht doch ein anständiger Kerl unter dem Kettenhemd schlummert). Schließlich sind da noch ein schlauer und ein edler Jungspund, welche Tiuris Verfolgung aufnehmen müssen, wenn sie doch noch ihre Ritterwürden erlangen wollen. Eine Verfolgung, die leider ohne die großen Überraschungen bleibt.
Warum Mystik?
Um der Seite der finsteren Welteneroberer noch einen besonderen Touch zu verleihen, wurde eine mystische Überhöhung des bösen Prinzen mit ein wenig dunkler Magie in die Geschichte eingebaut, die es im Roman nicht gibt. Was leider auch keine gute Idee darstellt, denn seit Harry Potter gehören im Bereich des fantastischen Jugendbuches Magie und Zauberei zu den festen Ingredienzien des Genres. Gut, zur Fantastik gehören eigentlich immer solche Zutaten. Eine in einem Fantasyreich spielende Geschichte ohne diese Zutaten wäre da allerdings – die echte Überraschung gewesen.
So lässt sich leider konstatieren, dass «Der Brief an den König» relativ wenige Überraschungen zu bieten hat, sondern eher ein Programm nach Vorschrift abliefert. Sicher gibt es einige Positiva zu erwähnen. Hauptdarsteller Amir Wilson etwa. Der gerade einmal 16-jährige Brite gehört zur erweiterten Cast der ungleich bombastischer ausgestatteten Serie «His Dark Materials» von BBC und HBO. Hier darf er nun die Hauptrolle spielen und durchaus Sympathiepunkte auf sich verwerten. Er ist der geborene Normalo, der Junge von nebenan, der eben nicht freudestrahlend mit dem Schwert in den Kampf zieht. Amir Wilson ist ebenso eine gelungene Besetzung wie Ruby Ashbourne Serkis in der Rolle der Lavinia. Lavinia ist der Störfaktor im Ritterspiel, das seinen Regeln folgt. Sie ist in dieser Welt unterm Strich noch mehr eine Außenseiterin als Tiuri – und man spürt der britischen Jungschauspielerin die Freude beim Spiel dieser Figur an. Unterstützung erfährt sie von ihrem durchaus berühmten Herrn Papa, Andy Serkis. Serkis, der durch die Darstellung des Gollum / Sméagol in den Filmen der «Herr der Ringe»-Trilogie Maßstäbe fürs Motion-Capture-Schauspiel gesetzt hat und derzeit als Regisseur «Venom 2» für die Leinwände vorbereitet, ist in einer kleinen Nebenrolle als betrügerischer Bürgermeister einer Stadt zu sehen, in der Tiuri Schutz sucht.
Der große Wurf ist Netflix mit der neuen Fantasy-Serie leider nicht gelungen. Zu ausgetreten sind die Pfade, auf denen sich die Story bewegt, zu wenige Überraschungen hält die Story bereit. Die Hauptfiguren sind sympathisch, keine Frage. Und ein junges Publikum wird sich ohne Zweifel mit Tiuri identifizieren können. Doch die brave Dramaturgie, die Tiuris Weg von A nach B nach C verfolgt, ist kaum dazu geeignet, ein großes Interesse aufflackern zu lassen.
Ob die Serie fortgesetzt wird, literarische Fortsetzungen gäbe es, … man sollte nicht unbedingt drauf wetten.
Die Serie lässt sich auf Netflix streamen.
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