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Die Kritiker: «Der Überläufer»

Der auf einem Roman von Siegfried Lenz basierende Event-Zweiteiler will von einem deutschen Wehrmachtssoldaten erzählen, der an der Ostfront die Seiten wechselt – und hat dabei ein Haltungsproblem.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Jannis Niewöhner als Walter Proska
Małgorzata Mikołajczak als Wanda Zielinski
Sebastian Urzendowsky als Wolfgang Kürschner
Rainer Bock als Willi Stehauf
Bjarne Mädel als Ferdinand Ellerbrok
Florian Lukas als Paul Zacharias
Leonie Benesch als Hildegard Roth

Hinter der Kamera:
Produktion: Dreamtool Entertainment GmbH
Drehbuch: Florian Gallenberger (auch Regie) und Bernd Lange
nach dem gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz
Kamera: Arthur Reinhart
Produzenten: Stefan Raiser und Felix Zackor
„Den Krieg gewinnen wir nicht mehr.“ So viel ist dem jungen Wehrmachtssoldaten Walter Proska (Jannis Niewöhner) im Sommer 1944 im pommerschen Hinterland klar. Doch trotz dieser realistischen Einschätzung steht für ihn seine Entscheidung außer Frage, getreu dem Marschbefehl zurück an die Front zu gehen: „Ich hab‘ meine Pflicht. Meine Kameraden, die kann ich nicht im Stich lassen.“

Es ist dieses in seiner ethischen Dimension vollkommen fehlverstandene Pflichtgefühl, um das es Siegfried Lenz in seinem 1951 verfassten, aber damals in Deutschland unveröffentlichbaren Roman „Der Überläufer“ geht, den die ARD nach seiner posthumen Erscheinung im Jahr 2016 nun verfilmt hat.

Auf der Zugfahrt zur Truppe lernt Walter Proska alsbald eine junge Polin namens Wanda (Małgorzata Mokiłajczak) kennen, die sich schnell als Partisanin herausstellt und den Zug eigentlich in die Luft sprengen wollte, dann aber von ihren Plänen absah, als sie mit dem freundlichen deutschen Soldaten sympathisierte. Sie werden einander im Verlauf dieses Zweiteilers immer wieder bewegen, und ihre zwischenmenschliche Beziehung ist der zentrale emotionale Aufhänger für seine Dramaturgie, an dem seine Haltung zu Pflicht und Aufrichtigkeit verhandelt werden soll.

Proska untersteht zunächst dem Befehl von Unteroffizier Stehauf (Rainer Bock), einem widerlichen Sadisten, der im Zwiegespräch mit seinen Opfern nur halbseiden seine Unmenschlichkeit mit stets bedrohlicher Freundlichkeit kaschiert und sie damit nur umso unheimlicher zur Schau stellt. An ihm soll das eine Extrem plastisch werden: Im Krieg blühen die Menschenfeinde auf, die Freude am Töten haben und sich in hierarchischen Strukturen gefallen.

Das andere Extrem ist Proskas Kamerad Wolfgang (Sebastian Urzendowsky), der als Erster zum „Überläufer“ wird und sich den gegnerischen Truppen anschließt – ein Entschluss, für den weniger eine fundamentale Erkenntnis über die Verbrechen der deutschen Sache relevant war, sondern vielmehr die unerträgliche Zermürbungsschlacht, den der versprengte Wehrmachtshaufen gegen hundert Partisanen führt. In den polnischen Wäldern kreuzen sich die Wege von Proska und Wanda zum zweiten Mal.

Als Proska wenig später die sowjetische Uniform trägt, nachdem er in den ersten Minuten des zweiten Filmteils eher unfreiwillig die Seiten gewechselt hatte, folgt ihre dritte Begegnung: Wanda unterhält mittlerweile die versoffenen sowjetischen Soldaten mit russischen Schlagern, nachdem die Rote Armee ihre gesamte Partisanengruppe an die Wand gestellt hatte. Beide, so stilisiert es dieser Film, sind Opfer von Mächten und Weltanschauungen, die sich gänzlich ihrer Kontrolle entziehen: „Du wolltest den Zug nicht in die Luft sprengen und ich wollte deinen Bruder nicht töten“, analysiert Proska ihre wechselseitigen Sünden.

Dabei ist Ideologie die gesamte Laufzeit des Zweiteilers über seltsam abwesend. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass dieser Stoff das Leben der „kleinen Leute“ erzählen will, der Bauer und Tischler, der Volksschullehrer und Drechsler. Der „normale Deutsche“, so stellt es sich dieser Film vor, wollte weder gewaltsam Lebensraum im Osten erobern noch das gesamte europäische Judentum ausrotten. Diese weitgehende Exkulpierung des durchschnittlichen Deutschen ist historisch so natürlich unhaltbar, und trotzdem lässt «Der Überläufer» das Entstehen dieses Eindrucks zu, indem er die überzeugten Nazis allein als besonders befremdliche, von ihren ehrbaren Kameraden und Untergebenen rundherum abgelehnte Ausreißer ins Extreme darstellt, die sich im Vergleich mit den mordenden Rotarmisten nichts schenken.

Denn auch die Bauern, Tischler und Lehrer, die dieser Film in Form von Proskas Propagandareden beschwört, hatten eine grundsätzliche Weltanschauung und ideologische Vorstellung, wenn zum Großteil auch eine weit weniger dezidierte und in sich schlüssige als die Eliten ihrer Zeit. Lenz‘ 1951 in Form dieser Fiktion niedergeschriebene Haltung zum Spannungsfeld aus Pflichtbewusstsein und Aufrichtigkeit zur Zeit des Nationalsozialismus ist heute sicherlich nicht mehr konsensfähig – und trotzdem will sich dieser Film bald 70 Jahre später nicht von ihr lösen.

Noch dazu ist der unbedarfte Proska zumindest in dramaturgischer Hinsicht bei weitem nicht der interessanteste Charakter des Figurenorchesters – im Ergebnis stünde wohl ein spannenderer Film, wenn das Hauptaugenmerk auf zwei andere Rollen gelegt worden wäre: seinen Kameraden Wolfgang, der sich schon früher aus der falsch verstandenen Pflicht löst, dabei aber in ideologischer Blindheit nur von der einen Menschenvernichtungsmaschinerie in die andere stolpert, sowie die polnische Partisanin Wanda, mit der sich ein viel diffizileres, komplexeres und emotional wie psychologisch spannenderes Drama über Vergebung und Schuld hätte erzählen lassen. Dieses personelle Ungleichgewicht schlägt sich auch in den Performances der Darsteller nieder: Jannis Niewöhner spielt seinen Walter Proska gewohnt solide, doch das Drehbuch verweigert ihm die Möglichkeit, zu glänzen. Sebastian Urzendowsky hingegen nutzt freudig jede Gelegenheit, auch die entlegenen Eigenschaften seiner Figur herauszustellen, während die junge polnische Schauspielerin Małgorzata Mokiłajczak wohl die größte Entdeckung dieses Films ist. Hoffentlich dürfen wir ihr Talent im deutschen Fernsehen bald wiedersehen.

Das Erste zeigt den ersten Teil von «Der Überläufer» am Mittwoch, den 8. April um 20.15 Uhr. Der zweite Teil folgt an Karfreitag, den 10. April zur gleichen Sendezeit.
07.04.2020 11:20 Uhr Kurz-URL: qmde.de/117376
Julian Miller

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Der Überläufer

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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Kingsdale
07.04.2020 12:10 Uhr 1
Und schon wieder ein Film auf der ARD der sich um die Zeit um den zweiten Weltkrieg handelt. Ist es eigentlich keinen Aufgefallen, das die Öffentlich-Rechtlichen Sender ständig nur mit dem Thema um sich schlagen? Haben die keine anderen Ideen oder geht es nur darum das solche Filme billig zu Produzieren sind und sie ständig neu aufgewärmte Geschichte davon erzählen müssen? Denen fällt nix ein und dafür zahlt man dann Gebühren. Vereint mit den Privaten, die außer dümmliche Castingshows und nichtsagende C-Promis in gefühlt tausende Spielshows zeigen, ist es doch kein Wunder, dass immer mehr Zuschauer zu Netflix, Disney+ und Co. wandern.
Kalinkax
07.04.2020 14:11 Uhr 2
100% unterschreib!!!
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