Auf der Internetsuche nach einer Lösung für die ganz eigene Corona-Krise: Eine Frau in ihren Dreißigern stöbert gefrustet, angeödet und gehetzt im Internet.
Hinter den Kulissen
- Regie: Lutz Heineking, jr.
- Konzept: Philipp Käßbohrer
- Drehbuch: Max Bierhals, Tarkan Bagci, Giulia Becker und Patrick Stenzel
- Cast: Lavinia Wilson, Barnaby Metschurat, Victoria Trauttmansdorff, Jana Pallaske
- Produktion: btf GmbH (Creative Producer: Philipp Käßbohrer, Produzent: Matthias Murmann) in Zusammenarbeit mit eitelsonnenschein (Produzent: Marco Gilles)
- ZDFneo-Koordinatorin: Carina Bernd
- ZDF-Redaktion: Sarah Flasch, Max Fraenkel und Lucia Haslauer
Die durch äußere Umstände entstandene Herausforderung als Chance nutzen – das haben wir hier bei Quotenmeter.de vor wenigen Wochen noch den Kreativköpfen im fiktionalen Bereich empfohlen. Denn die Sicherheitsvorkehrungen in Zeiten der Corona-Pandemie lassen sich zwar halbwegs organisch in Info- und Showformaten umsetzen, aber nicht nahtlos in den Film- und Serienalltag einbinden.
Da müssten schon außergewöhnliche Ideen her, wie etwa «Tatort»-Kammerspiele über hitzige Verhörsituationen oder Soap-Folgen über Trennungsgespräche via Facetime und Co. – so war unser Gedanke.
Es hat auch nicht lange gedauert, bis im Fiction-Betrieb tatsächlich schräge Einfälle aufgekommen sind, um aus gesundheitlicher Umsicht getroffene Regeln einzuhalten und zugleich dem kreativen Schöpfungsdrang zu folgen, indem man unerforschte Pfade beschreitet. «Wächter der Nacht»-Regisseur Timur Bekmambetov etwa hat eine Flugkampfszene für seinen kommenden Weltkriegsfilm
mittels eines Videospiels gedreht und via Internetchat inszeniert. Und in Deutschland haben sich in den vergangenen Tagen die wilden Kreativen der bildundtonfabrik auf diese ungewöhnliche Herausforderung gestürzt: Sie haben eine Serie aus dem Boden gestampft, die hinter den Kulissen auf die derzeitigen Kontaktbeschränkungen achtet, aber handwerklich und inhaltlich mehr zu bieten hat als die kürzlich kreierte Auswahl an Corona-Liveschalten-Shows.
Entstanden ist bei diesem Versuch die mit der heißen Nadel gestrickte, aus dem Zeitgeist gerissene und auf die jüngsten Schlagzeilen schielende Comedyserie «Drinnen – Im Internet sind alle gleich». Und ähnlich, wie schon die btf-Netflix-Serie «How to Sell Drugs Online (Fast)»
die Sprache und das Lebensgefühl einer Teil-Generation einfängt und nebenher eine sehr spezifische, aus dem Zeitgeschehen entliehene Story wild, munter und kreativ aufbauscht, widmet sich auch diese ZDFneo/ZDFmediathek-Serie einer sehr spezifischen und situativen geistigen und emotionalen Verfassung:
Im Mittelpunkt von «Drinnen» steht Charlotte (Lavinia Wilson). Sie ist in ihren Dreißigern, mit ihrem Leben unzufrieden und hat den großen Befreiungsschlag lange vor sich hergeschoben. Zu lange. Sie wollte ihren frustrierenden Job in der Werbeindustrie kündigen, und die so oft vertagte Scheidung durchziehen. Hätte sie sich mal eher dazu durchgerungen. Denn jetzt ist Corona. Und Corona gestattet keine derartigen Reboots des eigenen Lebens. Charlotte ist gezwungen, genau jetzt, wo sie endlich ins nächste Kapitel ihrer Biografie skippen wollte, auf Pause zu drücken. Ihr Computer wird zum Fenster zur Außenwelt.
Aber er ist mehr als das. Er bietet nicht nur einen Ausblick. Er ist unerlässliches Werkzeug, um alle Bedürfnisse des täglichen Lebens zu steuern. Er ist Charlottes Familienmanagement-Assistent. Ihr digitaler, verlängerter Arm, der es ihr gestattet, ihren ungeliebten Beruf auszuüben, über den sie jetzt notgedrungen froh sein "muss". Und er ist während Charlottes unfreiwilliger Isolation zugleich der Zerrspiegel, der ihr ihre Ängste und Geheimnisse vorführt. Die Serie zieht sich an der Frage auf: Kann sie sich ihnen stellen ..?
„
Das gab's noch nie: Die Schauspieler*innen arbeiten zu Hause, die Regisseur*innen inszenieren per Videokonferenz, die Autor*innen sind im Homeoffice, die Produzent*innen und die Redakteur*innen ebenso. Wie fast alle gerade. Besondere Zeiten erfordern außergewöhnliche Produktionsweisen und vor allem die richtigen Geschichten.
”
Frank Zervos, ZDF-Hauptredaktionsleiter Fernsehfilm/Serie I, über die Produktionshintergründe
Ein bisschen Timur Bekmambetov weht durch «Drinnen – Im Internet sind alle gleich». Zwar ist die bildundtonfabrik-Serie nicht ausschließlich auf Bildschirmen erzählt, jedoch spielen sich sehr viele Szenen im Stile der Bekmambetov-Produktion «Searching» ab, mit der sie sich zudem das Erzähltempo und das scharfe Auge für Details teilt. In nur zehn Minuten verrät die Auftaktfolge dadurch, welche Suchvorschläge Charlotte erhält, welche Dienste sie in welcher Häufigkeit benutzt und auf welchen Webseiten und Apps sie sich zeitweise gleichzeitig aufhält, Berge über die «Drinnen»-Protagonistin. Und nicht nur über sie – sondern auch über den Menschenschlag, den sie repräsentiert. Da wird während des beruflichen Krisen-Videochats noch dies und das nebenher erledigt, die eigene Tagesform hochgekocht, in dem man, ganz neckisch, den «Kevin – Allein zu Haus»-Soundtrack streamt, und natürlich wird orientierungslos durch Twitter gescrollt, während man Trübsal bläst, da man ja angeblich nichts zu tun hätte.
Bedenkt man, wie kurzfristig «Drinnen» entstanden ist, erstaunt das Produktionsniveau: Laut «Searching»-Regisseur Aneesh Chaganty war das Anordnen, Nachstellen und Einfangen von Webseiten der kniffligste Aspekt an der Produktion
des zeitgemäßen Entführungsthrillers. Der «Drinnen»-Crew stand deutlich weniger Zeit zur Verfügung, und dennoch ist Charlottes Internethistorie stimmig. Ihre Webdienste und Apps sowie deren Inhalte, an denen sie eilig vorbeiscrollt und die virtuelle Kamera mitunter vorbeidüst, sind erzählerisch ergiebig, und es fallen keine handwerklichen Schönheitsfehler auf.
Was aber trotzdem noch wichtiger ist: Das Skript. Und das sitzt: Charlottes Dialoge und Monologe zeichnen ein dichtes Charakterbild eines älteren Mitglieds der Generation Y, das quasi sein ganzes Leben unwissentlich dafür geübt hat, die Corona-Krise entspannt auszusitzen – das sich aber völlig nervös machen lässt und ungeduldig, gelangweilt und zugleich überfordert in eine Sinnkrise rennt. Die Frau, die mit ihrer Leistung das alles stützt, ist Lavinia Wilson. Die Mimin, die skurrilerweise die Hauptfigur in der autobiografisch angehauchten Charlotte-Roche-Romanverfilmung «Schoßgebete» gegeben hat und nun in einer Serie der «Roche & Böhmermann»-Produktionsfirma eine fiktive Charlotte spielt, legt nämlich massig Charakter in ihr Schauspiel.
Ihre Darbietung fügt sich einerseits der stark verdichteten Erzählweise, gleichwohl erdet sie die in einem noch immer wenig erprobten Stil gehaltene Serie, indem sie im Timbre ihrer Figur
nicht die überhöhte, bewusst vor Zeitgeist triefende btf-Stilistik des Skripts bedient. Anders gesagt: Die Serie mag eine zugespitzte, verkürzte, modellhafte Skizze von Menschen in ihren Dreißigern sein, die eine eigene und eine globale Krise auszubalancieren versuchen und sich dabei in tumben Kleinigkeiten verlieren, aber durch Wilsons Spiel wird Charlotte dieser Charakteristik der Serie gerecht, ohne dass die Figur zu einer Karikatur wird.
Ausgefallen und dem Eiltempo zum Trotz ambitioniert ist «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» zweifelsohne. Doch es ist auch eine Serie für einen speziellen Geschmack: Die Gags sind oftmals sehr nebensächlich und spielen sich mehrmals rein auf filmemacherischer Ebene ab – und sie erfordern Vorkenntnis des Referenzmaterials. So läuft eine pfiffige Instrumentalversion von "Crazy", während Charlottes zunächst geordneter Internetalltag sukzessive entgleist. Muss man erstmal witzig finden können, um es auch wirklich witzig zu finden.
Und auch der Dialogwitz (sowie der Chat-Text-Witz) wird sehr trocken vermittelt, während der visuelle Duktus sehr spritzig-dynamisch ist – eine Schere, die für btf-Fans nicht neu ist, die man aber halt auch mögen muss. «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» hat sich also ganz offensichtlich eine sehr kleine, spitze Zielgruppe ausgesucht – aber der begegnet die Serie engagiert sowie auf Augenhöhe. Nur eine Frage bleibt offen – nämlich die, ob es eine kluge Idee ist, die Serie werktags Stück für Stück in 15 Folgen zu veröffentlichen, statt zum Beispiel in drei "Marathons" zu je fünf Folgen. Denn die zehnminütigen Häppchen lassen «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» auf dem ersten Blick schmächtiger erscheinen, als die Serie ist, sobald man genauer hinschaut.
«Drinnen – Im Internet sind alle gleich» ist werktäglich um 20 Uhr in der ZDFmediathek zu sehen. Die Zusammenfassungen zeigt ZDFneo wöchentlich ab Dienstag, 7. April 2020, um 22.45 Uhr.
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
04.04.2020 01:12 Uhr 1