Netflix' «Der Schacht»: «Snowpiercer» in der Vertikale
Eine soziale Allegorie auf die Menschheit, sich abspielend auf nur wenigen Quadratmetern – und am Ende geht es um eine Panna Cotta! Das ist die spanische Genre-Produktion «Der Schacht», die ab sofort auf Netflix verfügbar ist.
Filmfacts: «Der Schacht»
Ab sofort bei Netflix erhältlich
Genre: Horror/Drama
Laufzeit: 94 Min.
Kamera: Jon D. Domínguez
Musik: Aránzazu Calleja
Buch: David Desola, Pedro Rivero
Regie: Galder Gaztelu-Urrutia
Darsteller: Ivan Massagué, Zorion Eguileor, Antonia San Juan, Emilio Buale. Alexandra Masangkay, Zihara Llana
OT: El Hoyo (ESP 2019)
Nachdem Regisseur Galder Gaztelu-Urrutia mit seinem Spielfilmdebüt «Der Schacht» monatelang rund um die halbe Welt getourt ist, um es auf diversen Genre-Festivals vorzustellen, erreicht das dystopische Kammerspiel die deutschen Gefilde nun also über den Streamingdienst Netflix. Die Prämisse erinnert stark an Bong Joon-Hos hochgelobtes Sci-Fi-Actiondrama «Snowpiercer», in dem sich sämtliche Schichten ihrer gesellschaftlichen Stellung nach in einem um den Erdball zischenden Zug befinden; die Reichen ganz vorn, die Armen ganz hinten am Zugende. Für «Der Schacht» verlagert Gaztelu-Urrutia dieses Prinzip nun – im wahrsten Sinne des Wortes – in die Vertikale: In einem aus mehreren Hundert Plattformen bestehenden Gefängnis befinden sich auf jeder Etage zwei Menschen. In der Mitte von ihnen befindet sich ein mehrere Meter langer und breiter Spalt, durch den einmal am Tag eine reich gedeckte Essenstafel von oben nach unten fährt. Die ganz oben können sich als erstes bedienen. Alle darunter müssen von dem leben, was die Menschen darüber übrig lassen.
Zugegeben: Es gibt smartere Gesellschaftsallegorien als «Der Schacht», auch als [[Snowpiercer]; Zumal beide Filme ihr Anliegen zwischendrin immer mal wieder allzu deutlich ausformulieren. Aber sie machen trotzdem einen riesigen Spaß.
Die Reste von oben
In einer dystopischen Zukunft hausen Gefangene hungernd in übereinander gestapelten Zellen, vor denen die Nahrung von oben nach unten herabgelassen wird. Dabei bekommen die oberen Gefangen stets etwas ab, die weiter unten sind ausgehungert und reagieren immer radikaler. Unter ihnen auch Goreng (Ivan Massaqué), der eines Tages auf der Plattform aufwacht wie Trimagasi (Zorion Eguileor). Der schon etwas ältere, mit einem Samurai-Messer bewaffnete Mann kennt die Regeln dieses Gefängnisses bereits aus dem Effeff und leitet seinen neuen Zellengenossen an. Doch kann Goreng ihm wirklich trauen?
Obwohl es keinerlei besondere Interpretationsanstrengung benötigt, um den Allegorie-Gedanken hinter «Der Schacht» sofort zu verstehen, macht es einem das Drehbuchautorenduo aus David Desola («Almacenados») und Pedro Rivero («La crisis carnívora») nicht leicht: Der von ihnen zum Protagonisten auserkorene Goreng ist trotz bemüht positiven Motiven alles andere als eine leicht zugängliche Figur. Mit seiner raubeinigen Attitüde und seinen permanent misstrauischen Fragen an sein Gegenüber (bei denen man sich ein wenig fragt, wie sich dieses Verhalten damit in Einklang bringen lässt, dass Goreng eigentlich von Anfang an seiner Gefangenschaft zugestimmt hat) überträgt sich das Gefühl seiner labilen Psyche rasch auf den Zuschauer. Als Identifikationsfigur taugt er indes ebenso wenig wie jeder andere Charakter hier; sein Verhalten ist wahlweise unverständlich, naiv oder flatterhaft. Aber genau dadurch – und natürlich durch die anderen Inhaftierten (insbesondere Trimagasi) als kaum einschätzbare (Un-)Sicherheitsfaktoren – schlägt die Stimmung recht schnell in pure Hysterie um.
Für eine durchexerzierende Charakterstudie viel zu schnell. Für ein von Anfang an Druck machendes Horrorerlebnis dagegen genau richtig. Die Macher halten sich für «Der Schacht» kaum an erklärender Exposition auf. Stattdessen wirkt es fast schon wie ein psychosoziales Experiment, wenn die Kamera einfach einfängt, was die Menschen hier unter dem Druck der Situation wohl noch alles anstellen werden.
Das Mysterium entschlüsselt
Unterfüttert wird dieses Gefühl, dass hier zu jedem Zeitpunkt wirklich alles passieren kann, von vereinzelten Schockmomenten: Immer wieder fallen plötzlich Körper von oben durch den Schacht, schlagen wahlweise an den Enden der Plattformen auf oder rauschen direkt ganz in die Tiefe. Und nicht immer befinden sich auf der Essenstafel ausschließlich die Reste der Oberen. Darüber hinaus wechselt Goreng seinen Plattform-Standort im Gefängnis gleich mehrfach, sodass man sich als Zuschauer einen guten Eindruck darüber verschaffen kann, wie die Situation sowohl für die ganz oben als auch für die ganz unten aussehen muss. Dafür findet Kameramann Jon D. Domínguez («Open Windows») bisweilen sehr drastische Bilder (in Deutschland ist «Der Schacht» nur nach Eingabe des Jugendschutz-Codes anschaubar), die spätestens dann besonders intensiv werden, wenn Galder Gaztelu-Urrutia die triebgesteuerten Gefilde des Kannibalenhorror-Subgenres streift.
In einer dystopischen Zukunft hausen Gefangene hungernd in übereinander gestapelten Zellen, vor denen die Nahrung von oben nach unten herabgelassen wird. Dabei bekommen die oberen Gefangen stets etwas ab, die weiter unten sind ausgehungert und reagieren immer radikaler.
Eine Splatterorgie ist «Der Schacht» dann aber nicht. Der Regisseur stellt die Gewalt nie dem reinen Vergnügen wegen aus. Stattdessen wirken viele Gore-haltige Momente in ihrem Auftreten schlicht notwendig, um die ultimative Ausnahmesituation in angemessene Bilder zu kleiden. Für Zartbesaitete ist das nichts.
Hauptdarsteller Ivan Massagué («Pans Labyrinth») gibt als psychisch sukzessive immer mehr frei drehender Goreng eine passable, wenngleich nicht überragende Leistung ab. Dafür ist er ausgerechnet immer dann am stärksten, wenn er gerade irgendwo gefesselt und geknebelt um sein Leben bangen muss. Sein Zellengenosse Zorion Eguileor («Pikadero») dagegen hat sich die einschüchternde Präsenz seiner widerlichen Figur vollständig zu eigen gemacht und überzeugt auf ganzer Linie. Etwas, was sich zum Film, der zweifellos kurzweilig und auf morbide Weise sehr unterhaltsam ist, insgesamt leider nur bedingt sagen lässt. Als ein wenig schade erweist sich an «Der Schacht» nämlich, dass die Macher am Ende doch alles ein wenig zu sehr erklären wollen. Das beginnt schon bei einer Handvoll eingestreuter Flashbacks, die uns mehr über die wichtigsten Charaktere verraten, als es für das Filmerlebnis eigentlich notwendig wäre; im Gegenteil: Durch allzu viel Aufschlüsselung des Gezeigten geht sogar ein Stückweit der Reiz am Mysterium Schacht verloren. Das geht so weit, dass «Der Schacht» mit der aller letzten Szene gar alle existenziellen Fragen beantwortet hat.
Dabei wäre der Film – ähnlich des allein schon aus architektonischer Sicht artverwandten «Cube» – wie geschaffen dafür, den Zuschauer mit der Frage zu entlassen, was er da die vergangenen eineinhalb Stunden eigentlich gesehen hat. Darüber hinaus stellt es auch den ohnehin plumpen Allegorie-Gedanken noch einmal heraus. Das macht «Der Schacht» am Ende zwar nicht zu einem schlechten Film. Wohl aber zu einem, dem man anmerkt, dass die Verantwortlichen wenig Vertrauen in ihre mitdenken Zuschauer hatten. Vielleicht eine der Spätfolgen von «Snowpiercer». Der galt ja bekanntermaßen auch als zu komplex für sein Publikum.
Fazit
«Der Schacht» ist eine recht plumpe Gesellschaftsallegorie, die Regisseur Galder Gaztelu-Urrutia allerdings ebenso reizvoll wie blutig umsetzt. Bis man im letzten Drittel den Eindruck gewinnt, die Macher hätten ihrem Publikum ein offenbleibendes Mysterium mitsamt ausbleibenden Antworten nicht zutrauen wollen. Dadurch verliert der Film ein Stückweit an Attraktivität.
«Der Schacht» ist ab sofort bei Netflix streambar.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel