Ein Dutzend junge Leute, die auf Sofas sitzen, im Social-Media-Stil miteinander kommunizieren und sich dabei nicht sehen. Daraus ist dank Netflix das Reality-Phänomen des Jahres geworden. Doch unser Autor ist skeptisch, ob die Sendung auch in anderen Märkten funktionieren wird.
Vielleicht braucht man gar keinen Zynismus, um sich eine Show wie «The Circle» auszudenken. Möglicherweise reicht es schon, wenn man unsere heutigen gesellschaftlichen Kommunikationsformen – und besonders die aus ihnen herrührenden sozialen Konsequenzen – vollends verstanden hat. Denn dann wirkt dieses Format nicht wie ein Spiel, als das es sich gerne bezeichnet, und nicht einmal wie ein Reality-gerecht verklausuliertes soziales Experiment, in dessen Rahmen sonst Ratten durchs Labyrinth gejagt oder Dani Büchner und Elena Miras in Ostaustralien ausgesetzt werden, sondern wie der irgendwie traurige und erschreckend perverse destillierte Ist-Zustand.
Nun ist der britische Sender Channel 4 aufgrund seiner Mischung aus öffentlichem Programmauftrag und budgetärer Refinanzierungspflicht wohl prädestiniert für solche Formate, die einerseits von einer gewissen Relevanz, andererseits vom Anspruch an eine größtmögliche Zuschauerschaft getragen sein müssen. Im Vereinigten Königreich beglückte «The Circle» schon Ende 2018 ein Millionenpublikum, ehe sich Netflix die Rechte für Auslandsadaptionen in ausgewählten Märkten sicherte: Die US-Version – global gesehen, dürfte sie die relevanteste sein – ist nun im Januar on air gegangen, Brasilien und Frankreich werden in den nächsten Monaten folgen.
Das Rezept der Sendung ist dabei so simpel wie clever, und lebt inhaltlich von der völligen Reduzierung des Lebens der Protagonisten auf Umgangsformen, die aus Social-Media-Kanälen und Messenger-Apps bekannt sind: Acht interessanten Persönlichkeiten zwischen Mitte 20 und Ende 30 (und sogar noch etwas älteren Semestern) werden Apartments zugewiesen, in denen sie die nächsten Tage zubringen werden. Sie kennen einander nicht, sie sehen einander nicht, und interagieren nur über den „Circle“, dem sie Textnachrichten an die anderen (in Gruppen- oder Einzelchats) diktieren, während sie über ihre Profilinformationen an ihrer Selbstdarstellung arbeiten können. Wer am Schluss zum Beliebtesten im Bunde gekürt wird, geht mit einhunderttausend Dollar nachhause, und hin und wieder dürfen die aktuell am höchsten Gerankten einen Mitspieler rauskegeln – ob sie dabei nach Sympathie oder taktisch im Sinne ihrer eigenen Gewinnchancenmaximierung vorgehen, ist ihnen überlassen. Catfishen ist ausdrücklich erlaubt, und bringt noch ein bisschen «The-Mole»-Feeling in das Format.
Binnen weniger Minuten entpuppt sich das einfache Konzept als genial – denn die Sogwirkung setzt entlang der Vorstellungsdramaturgie der Teilnehmer und erster Eisbrecher-Spielchen schier unbemerkt, aber höchst effektiv ein. «The Circle» hat vieles verstanden: Während wir den Kandidaten bei ihrem abgeschotteten They-can’t-see-me-Alltag zwischen Schall, Rauch und Authentizität zusehen, zeigt uns das Format ganz subtil, aber nachdrücklich die Social-Media-bestimmten Kommunikationsschrullen unserer heutigen Lebenswelt auf und schubst uns angenehm unaufdringlich ins Reflektieren. Konflikte muss die Sendung dabei gar nicht schüren: Sie entstehen – trotz beständiger Isolation der Protagonisten, die nur nach der Abwahl eines Mitspielers aufgebrochen wird – wie von selbst. Von der Bedienung niederer Instinkte oder einem Aufgeilen am sozialen Abwärtsvergleich will das Format ohnehin nichts wissen. Stattdessen nähert es sich seinen Teilnehmern mit ehrlichem Interesse und aufrichtiger Sympathie.
Dabei steht und fällt «The Circle» mit seinen Kandidaten – was bei der Frage, wie gut die Sendung in Form von lokalen Adaptionen in anderen Märkten funktionieren wird, zu einer gewissen Skepsis führt: Fröhliche, extrovertierte Amerikaner und vergleichsweise sozial enthemmte Briten passen perfekt ins Konzept: aber auch weltschmerzgeplagte, reflektierende, philosophische Franzosen? Und vielleicht irgendwann einmal auch die eher reservierten Deutschen? Gut möglich, dass Netflix damit auf internationaler Bühne noch ein paar Länderklischees umschubsen wird.
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
16.02.2020 11:27 Uhr 1
Und ja Ranking gibts auch. Definitiv das bessere Big Brother, wenn man auf eine oberflächliche Trash-Reality-Welt steht
Übigends ein Fehler im Artikel. Alter Ende 30 stimmt nicht unbedingt