Ein kleiner Provinzapotheker wundert sich über die stetig wachsende Anzahl an Opioid-Rezepten, die in seiner Apotheke eingelöst werden. Er beginnt der Sache auf den Grund zu gehen. Kurze Zeit später wird er beschattet, die Ermittlungsbehörden halten ihn für einen Spinner. Und nein, dies ist kein Thriller. «Der Apotheker» ist eine Dokumentation über eine, man kann es nicht anders sagen, unfassbare Geschichte.
«Der Apotheker»
- OT: «The Pharmacist»
- USA 2019
- Regie: Julia Willoughby Nason, Jenner Furst
- Schnitt: Claire Ave`Lallemant, Ann Collins, Aaron Yanes
- Kamera: Brandon Riley, Evan Jake Cohen
- Redaktion: Jed Lipinski, Lana Barkin, Jenner Furst, Julia Willoughby Nason
- Vier Episoden a ca. 50 Minunten
Die Opioidkrise in den Vereinigten Staaten wurde durch das Schmerzmittel Oxycotin ausgelöst, das das Unternehmen Purdue Pharma 1996 auf den US-Markt gebracht hat. Sein Wirkstoff ist ein synthetisches Opioid, das Schmerzen lindert. Schmerzen lindern? Das klingt erst einmal nicht schlecht. Vor allem, da das Unternehmen versicherte, das Mittel sei harmlos. Aber nicht nur das: Die Einnahme brachte eine sehr schnelle Linderung. Selbst Menschen, die schon lange an – ganz unterschiedlichen – Schmerzen litten, berichteten über eine massive Verbesserung ihres Zustandes. Was wiederum die privaten Krankenkassen entzückte, denn im Vergleich zu einer langwierigen und teuren Schmerztherapie war Oxycotin ein Schnäppchen. Daher wurde es en masse verschrieben. Gleichzeitig wurde eine Marketing-Maschine in Gang gesetzt, deren Ziel es war, Oxycotin als ein zuverlässiges Schmerzmittel zu vermarkten. Auf Opioid-Basis hergestellte Medikamente entwickelten sich zu einem regelrechten Goldesel der amerikanischen Pharmaindustrie. Und stürzte die USA in eine Opioid-Krise, die bis heute nicht überwunden ist und laut dem
Berliner Tagesspiegel bislang 400.000 Opfer gefordert hat.
Laut eines Berichts der
Pharmazeutischen Zeitung sinkt aufgrund der Krise sogar erstmals seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Lebenserwartung der Amerikaner. Denn das ist der unschöne Nebeneffekt dieser Medikamente: Sie machen süchtig.
Ein Mord
Doch davon ist 1999 noch nichts bekannt, als die Geschichte von Daniel Schneider beginnt. Und seine Geschichte hat zwar mit Drogen zu tun, aber überhaupt nichts mit Opioiden. Nein, Dan Schneider ist ein Kleinstadtapotheker in St. Bernard Parish, einer Gemeinde, die direkt an New Orleans grenzt und die Dan Schneider selbst als ein sehr mittelständischen Städtchen beschreibt. Zwei Raffinerien sorgen für Arbeit, man lebt in kleinen Häuschen, der oberste Gesetzeshüter ist ein Sheriff. Daniel Schneider erzählt über sich selbst, dass er nach der Schule nicht wirklich wusste, was er werden sollte und eher zufällig auf den Beruf des Apothekers aufmerksam wurde. In Archivaufnahmen, etwa vom Football-Team seiner High School, für das er spielte (und auf dem zufällig auch seine spätere Ehefrau – seinerzeit eine Cheerleaderin – zu sehen ist), wird im Zeitraffer-Tempo eine amerikanische Geschichte erzählt. Ein Junge aus einem so genannten anständigen Elternhaus, lernt ein nettes Mädchen kennen, erlernt einen anständigen Beruf, wird Vater eines Sohnes und einer Tochter... Normaler (langweiliger) kann eine Geschichte kaum ausfallen.
Bis zu jenem Tag im April 1999, an dem sein Sohn, Daniel Jr., in 9th Ward erschossen wird.
Filmische Stilmittel
Die Regisseurinnen Julia Willoughby Nason und Jenner Furst erzählen in den ersten beiden Episoden ihres Vierteilers die Geschichte einer Mördersuche. Sie nutzen dafür zwar typische Stilmittel des Spielfilmes – Musik, Schnitt, Rückblenden – aber dies ist keine der typischen, billig heruntergerotzten Mörderjagd-Geschichten, die von der Jagd auf Serienkiller und andere Mörder berichten, in denen Polizisten davon erzählen, wie sie durch ihre Genialität, ein paar Zufälle und natürlich Unbestechlichkeit den Mördern auf die Spur kamen und wie diese dann ihrem gerechten Urteil zugeführt worden – was durch schnelle Schnitte, verwischte Bilder, extra grobkörniges Zufallsmaterial noch einmal eine gewisse zusätzliche - billige – Dramatik erfährt. Von dieser Effekthascherei ist
«Der Apotheker» weit entfernt, denn die ersten beiden Episoden des Doku-Vierteilers erzählen nicht nur von einer Mörderjagd. Die ersten beiden Episoden erzählen auch die Geschichte eines zerrissenen Landes. Auf der einen Seite das nette Städtchen St. Bernard Parish, auf der anderen Seite das Ghetto 9th Ward, eine Welt der Drogen, der Hoffnungslosigkeit, der Gewalt.
Und dann ist da eine Polizei, die 1999 als die korrupteste Uniformträgerbande der USA galt. Durchseucht von Bestechlichkeit, mit sich selbst mehr beschäftigt als mit der Welt außerhalb.
Tonbandaufnahmen
Dass die Regisseurinnen nicht nur auf Erinnerungen von Daniel Schneider zurückgreifen können, ist der Polizei von New Orleans zu „verdanken.“ Die interessierte sich nämlich nicht für den Tod seines Sohnes, der in ihren Augen nur ein kleiner Junkie war, dem irgend ein Pusher in den Kopf geschossen hatte. Im zweiten oder dritten Gespräch, das Daniel Schneider mit der Polizei führte, wurde er beschimpft und, vorsichtig ausgedrückt, nicht gut behandelt. Was dazu führte, dass er von diesem Tag an jedes Gespräch mit der Polizei heimlich mitgeschnitten hat. Der Einblich in diese Welt ist erschütternd.
Aber nicht nur das: Er selbst nahm das Gesetz in seine Hand, er begann Fahndungsaufrufe zu starten – und er ging nach 9th Ward. Wissend, dass Menschen wie er dort nicht gerne gesehen werden.
Bei aller Dunkelheit, die über der Geschichte liegt, gelingt es den Regisseurinnen durch ihre behutsam geführten Gespräche mit Zeitzeugen auch so etwas wie Hoffnung zu zeigen. Da ist etwa der Pastor, der seine eigene Angst vor den Gangs überwindet und mit Menschen aus 9th Ward Daniel Schneider bei seiner Suche nach dem Mörder seines Sohnes zur Seite stehen. Die Macherinnen bleiben dabei, bei aller Sympathie, die sie für Schneider empfinden, auf einer Distanz zum Geschehen, die es ihnen ermöglicht, journalistische Sachlichkeit zu bewahren. Bis auf einen Moment, in dem sich ein vermeintlicher Zeitzeuge als Mörder von Daniel Schneider Jr. entpuppt. Ja, auch ihn haben sie vor die Kamera bekommen. Und ja, Daniel Schneiders Suche, von TV-Sendern seinerzeit verfolgt, hat zu einem Erfolg geführt, der die Polizei ziemlich blamiert haben dürfte, denn Daniel Schneider ist etwas gelungen, was der Polizei nicht im Ansatz gelungen ist: Er hat die Menschen angesprochen, dem Schmerz ein Gesicht gegeben und auf diesen Weg auch Menschen erreicht, die normalerweise nie zur Polizei gegangen wären.
Und es geht weiter
Allein diese Geschichte ist unglaublich und ein Zeitdokument aufgrund der Massen an Ton-Aufnahmen, die Schneider in den Monaten nach dem Tod seines Sohnes angefertigt hat. Jedoch endet die Geschichte nicht, denn durch den Tod seines Sohnes hat sich Daniel Schneider, das wird schnell klar, verändert. Er ist misstrauisch geworden. Vielleicht ist er sogar paranoid – er selbst schließt es nicht aus. Aber heißt es nicht – nur weil du verrückt bist bedeutet das nicht, dass sie nicht hinter dir her wären?
Für gewöhnlich enden Dokumentationen dieser Art, egal ob gut oder schlecht, mit der Überführung und Verurteilung des Mörders. Sie interessieren sich nicht dafür, wie die Hinterbliebenen weiterleben. Ist die Verurteilung für sie ein Neubeginn? Können sie mit dem Geschehen abschließen? Oder zerbrechen sie am Wissen über die Hintergründe des Todes des von ihnen geliebten Menschen?
Im Fall von Daniel Schneider wird sehr schnell klar, dass er mit der Aufklärung des Falles keinen Schlussstrich ziehen konnte. Die Vorwürfen, nicht bemerkt zu haben, wie der Sohn drogensüchtig wurde, wie er, der Apotheker, Anzeichen, die ihn hätten misstrauisch stimmen müssen, übersehen hat (oder übersehen wollte?): Lassen ihn überaufmerksam werden. Und so fallen ihm übermäßig viele Verschreibungen von Opioiden auf. Er beginnt zu recherchieren und aufgrund seiner Paranoia – auch zu protokollieren und mitzuschneiden. Es dauert nicht lange, bis er sich sicher ist, von irgend jemanden verfolgt zu werden.
Die Geschichte wirkt derart überdreht, wäre dies eine fiktive Serie, man würde wohl mit der Stirn runzeln. Die ersten beiden Episoden, das lässt sich nachvollziehen. Der von Schmerz gepeinigte Vater, der nach Antworten sucht. Aber der Kleinstadtapotheker, der etwas bemerkt, was offenbar Tausende seiner Kollegen nicht bemerken? Das klingt ziemlich weit hergeholt. Allein ist dies keine fiktive TV-Serie, sondern eine Doku über ein tatsächliches Geschehen. Mit einem höchst realen Hauptdarsteller.
Fazit: Am Ende des Tages beweist Netflix, dass der Streamingdienst eben auch Doku kann. Natürlich lässt sich bemängeln, dass es dazu einer Geschichte bedarf, die international verwertbar ist. Es ist kaum anzunehmen, dass man in näherer Zukunft vielleicht mal eine Netflix-Doku über Versäumnisse der Deutschen Bahn beim Ausbau des Nahverkehrs zu sehen bekommen wird. Auch wenn das bestimmt hyperspannend werden könnten. Dafür wäre ein solches Thema nicht massenkompatibel genug. Also gibt es durchaus eine Kritik. Die soll hier nicht verschwiegen werden, allerdings ist sie an anderer Stelle zu thematisiert. Die Geschichte des Apothekers Daniel Schneider ist auf jeden Fall so ungewöhnlich, dass sie auch für Doku-Muffel ein Muss sein sollte.
«Der Apotheker» ist über Netflix abrufbar.
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