Einseitige Nominierungen, eine gehetzte Oscar-Saison und viel Unmut. Lassen sich die Academy Awards verbessern?
Jahr für Jahr sorgen die Academy Awards nicht nur für Jubel, sondern auch für Grummeln: Nicht nur, dass diverse Stimmen darüber klagen, dass ihre Favoriten nicht nominiert wurden, es kommt auch zu zunehmendem Unmut über generelle Meinungstendenzen der Academy of Motion Picture Arts & Sciences. Es beginnt damit, dass Darsteller in Biopic-Dramen eine deutlich höhere Chance haben, nominiert zu werden, als Darsteller in Sci-Fi-, Action- oder Horrorfilmen. Es geht kritischer damit weiter, dass Filme von Regisseurinnen anscheinend deutlich schwächere Chancen haben, die Academy völlig um den Finger zu wickeln. Oder damit, dass nicht-weiße Schauspielerinnen und Schauspieler noch immer deutlich seltener gewürdigt werden – obwohl das Argument "sie bekommen einfach viel seltener gute Rollen, also liegt das Problem
dort" von Jahr zu Jahr immer weniger zieht.
Doch was soll man da tun? Wie schafft man es, dass die Oscars dem Anspruch, den sie sich selbst setzen und den ihnen viele Filmfans ihnen doppelt und dreifach vorhalten, gerecht werden und sie generell Güte in der Filmkunst würdigen, statt primär Güte in einem bestimmten Sektor des (englischsprachigen) Filmschaffens?
Eine eher schlichte und daher hoffentlich leicht umzusetzende Idee wäre es, die Oscar-Saison zeitlich wieder zu verschieben: Die 92. Oscars finden absurd früh statt und hatten einen kurzen Nominierungs- und Kampagnen-Zeitraum. Das Ergebnis: Obwohl diese Saison mehr Nominierungen ausgesprochen wurden als zuletzt (durch die Vergrößerung der Make-up-Kategorie), sind ungewöhnlich wenige Filme nominiert. Der Zuspruch der Academy verteilte sich über zwei Handvoll fiktionaler Filme, die dafür häufig nominiert wurden. Das könnte reine Korrelation sein, aber die Vermutung liegt nahe, dass ein Kausalzusammenhang besteht:
Da Hunderte von aktiv tätigen Filmschaffenden über die Oscars abstimmen, und selbst ein Filmnarr wie Quentin Tarantino nur ein paar aktuelle Filme pro Jahr schafft, wenn er gerade einen eigenen Film dreht, ist der ganze Kampagnenzirkus wichtig für die Academy Awards. Denn Leute müssen erst wachgerüttelt werden, dass bald wieder nominiert wird und dann heißt es, die Aufmerksamkeit auf bislang ungesehene Filme zu lenken, die sie bis zur Abgabe der Nominierung nachholen sollten. Wenn die Phase zwischen "das Filmjahr ist zu Ende" und "der Nominierungszeitraum ist zu Ende" länger dauert, haben Oscar-Abstimmungsberechtigte die Gelegenheit, mehr Filme nachzuholen und intensiver über ihre Favoriten nachzudenken. Das war dieses Jahr nicht der Fall, was erklären könnte, dass ungewöhnlich wenige Filme nominiert wurden – denn im Idealfall stimmt man ja nur für Filme ab, die man kennt.
Das könnte auch erklären, weshalb bestimmte Filme so viel Aufmerksamkeit von der Academy erhalten haben: Wer sein Recht, über die Oscars mitzubestimmen, nutzen möchte, aber kaum Filme gesehen hat – woran entscheiden diese Personen, welche Filme sie kurz vor knapp noch nachholen? Klar, manche werden einfach ihrem Geschmack folgen, doch es ist auch denkbar, dass die Filme, die relevant erscheinen, in der Prioritätenliste nach oben rücken. "Oh, das soll einer der besten Filme des Jahres sein / dem werden große Oscar-Chancen angerechnet / davon habe ich so viel gehört, das gucke ich als Erstes!", quasi. Was uns zu einem Aspekt des Oscar-Rennens führt, den die Academy leider nicht beeinflussen kann. Ja, sie kann die Oscars wieder erst Mitte oder gar Ende März veranstalten und so die zuletzt gedrängte Oscar-Saison entzerren. Aber sie kann nicht den medialen Oscar-Diskurs steuern. Da ist die Branchenpresse in der Bringschuld.
Denn über welche Filme wurde diese Oscar-Saison tagtäglich berichtet? Praktisch Tag für Tag wurden Schlagzeilen aus dem Film «Joker» geleiert. Wie gefährlich er doch sei. Nein, wie ungefährlich er doch sei. Nein, wie wichtig er doch sei. Dass Todd Phillips' mit «Joker» ja
keinen Comicfilm gemacht habe. Darüber, wie Todd Phillips über moderne Komödien denkt. Ob es eine Fortsetzung gibt. Ob es bewusst keine Fortsetzung gibt. Was Todd Phillipps über andere Comicadaptionen denkt. Wie «Joker» beweist, dass ein figurengestütztes Drama tonnenweise Geld in die Kassen spülen kann. Dass Martin Scorsese den Film noch nicht gesehen hat. Dass Martin Scorsese Teile des Films gesehen hat! Und so weiter, und so weiter. Scorsese dagegen hielt sich und somit auch «The Irishman» mit seinen Aussagen über Superheldenfilme und den von ihm postulierten Untergang des Kinos ebenfalls über Monate hinweg prominent in den Schlagzeilen – und zugleich verdrängte er somit die noch in der vergangenen Oscar-Saison prominente Frage aus dem Filmdiskurs, ob es nicht Netflix ist, das die Kinos mit seinen Methoden bedroht. Ein schöner Boni, wenn man mit einem Netflix-Film auf Oscar-Gold hofft.
Aber während die Branchenpresse (und die, die es sein will) aus jedem Huster von oder über Scorsese und Phillips eine Schlagzeile gemacht hat, blieben andere fähige Filmschaffende außen vor. Wo sind zum Beispiel die fünfzehn Dutzend Essays, Interviews und Porträts über «Hustlers»-Regisseurin Lorene Scafaria? «Hustlers» war ein Kritikerliebling und lief an den US-Kinokassen sehr erfreulich, aber nach einem sehr kurzen "Verherrlicht der Film die gezeigten Straftaten oder nicht?"-Zank in den Medien ließ die Fachpresse ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Und so verschwand der Film aus den Augen jener, die vor ihrem Oscar-Voting vielleicht noch Zeit für einen weiteren Film gehabt hätten – dann wurde es halt die «Joker»-DVD oder der «The Irishman»-Stream, beispielsweise.
Egal, ob zuerst die Academy dazulernt oder die Branchenpresse: In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar 2020 wird zum 92. Mal der Oscar verliehen. ProSieben beginnt die Vorberichterstattung um 23 Uhr, die Verleihung beginnt um 2 Uhr.
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