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«Leben ohne Papiere»: Eine Netflix-Doku, die unter die Haut geht

In einer sechs Folgen umspannenden Doku-Reihe zeigt Netflix das Leben von scheinbar ganz normalen Amerikanern: nur, dass sie gar keine sind, sondern eigentlich ausreisepflichtig. Pflichtfernsehen!

Wer auf einem beliebigen seriösen Sender die amerikanischen Nachrichten verfolgt, kennt die Lage im Abstrakten. Seit Donald Trumps Amtseinführung verfolgt die Abschiebe- und Einwanderungsbehörde eine knallharte Nulltoleranz-Politik gegenüber den weit über zehn Millionen Menschen, die sich rechtswidrig in den USA aufhalten: von Lagern an der Grenze bis hin zur Banalität des Bösen in Form einer Anwältin des Bundesjustizministeriums, die nonchalant argumentiert, eingesperrte ausländische Kinder bräuchten dem Gesetz zufolge keinen Zugang zu Hygieneartikeln, um als menschenwürdig untergebracht zu gelten.

Auch das Gros der Amerikaner, das im Land geboren wurde und deswegen nie das Vergnügen mit verbohrten Einwanderungsbeamten und übergriffigen Abschiebeoffiziellen hatte, kommt nicht mehr an den Ereignissen vorbei und kann sie nicht mehr als Randnotiz in den Abendnachrichten abtun. Denn der Vollzug findet nicht mehr in irgendwelchen Innenstädten und am Straßenrand von Highways in Arizona statt, sondern mitten in ganz normalen Wohngebieten, wo ganz normale Leute leben, ganz normale Amerikaner eben: nur, dass ein paar von ihnen – auch zur großen Überraschung ihrer genauso unauffälligen Nachbarn – nicht einmal über ein gültiges Visum verfügen, geschweige denn einen US-Pass.

So wie die israelische Familie in Kalifornien, die vor 17 (!) Jahren ein- und einfach nie wieder ausgereist ist. Oder der Lao, der 1986 (!) in den Nachwehen des Vietnamkriegs als Kontingentflüchtling über Thailand und die Philippinen in die Carolinas immigrierte, nach einer verbüßten Haftstrafe wegen eines Drogendelikts aber seinen Aufenthaltsstatus‘ verlor und nun ausreisepflichtig ist. Oder die Honduraserin, die in der zentralamerikanischen Heimat von ihrem Ex-Mann, einem korrupten Polizisten, tyrannisiert wird, nach monatelanger Inhaftierung irgendwo in Missouri schließlich abgeschoben wurde, und nun mithilfe eines Kojoten versucht, über Mexiko zurück auf amerikanischen Boden zu gelangen.

Ihre Sympathie mit den gezeigten Protagonisten muss die Dokumentation dabei gar nicht einmal sonderlich zur Schau stellen. Die Lebensläufe, Kämpfe und Ziele der auftretenden Personen sprechen für sich – genauso wie das Auftreten der gesichts- und gnadenlosen Vollstreckungsbeamten. Die Interviews mit Rechts- und Einwanderungsexperten, Anwälten und ehemaligen Offiziellen, mit denen «Leben ohne Papiere» die ausführliche Schilderung der gezeigten Schicksale unterfüttert, sind nur illustrierendes Material zur besseren Einordnung.

Doch die Protagonisten sprechen aus sich heraus, und diese Netflix-Doku tut richtig daran, sie weder zu dämonisieren noch zu verklären. So steht am Schluss eine erstaunlich nüchterne, aber doch schonungslose Bestandsaufnahme der Umstände, in denen der blinde Fleck Amerikas existieren muss, und sich trotz fehlender Dokumente, Sozialversicherungsnummern oder Bankkonten eine erstaunlich normale Existenz aufbaut, die Jahrzehnte halten kann: Doch es sind Jahrzehnte der ständigen Angst vor den Abschiebekommandos und den menschenunwürdigen Lagern. Ein Doppelleben, das im Fernsehen noch nirgendwo sonst so eindrucksvoll geschildert worden ist.

«Leben ohne Papiere» ist bei Netflix verfügbar.
10.10.2019 11:20 Uhr Kurz-URL: qmde.de/112784
Julian Miller

super
schade


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Leben ohne Papiere

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