John Crowley verfilmt den mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Weltbestseller «Der Distelfink» als Jahrzehnte umspannendes Drama und verhebt sich erst am Schluss an den Dimensionen, denen der Film letztlich nicht ganz gerecht wird.
Filmfacts: «Der Distelfink»
Start: 26. September 2019
Genre: Drama
FSK: 12
Laufzeit: 159 Min.
Kamera: Roger Deakins
Musik: Trevor Gureckis
Buch: Peter Straughan
Regie: John Crowley
Darsteller: Oakes Fegley, Ansel Elgort, Nicole Kidman, Jeffrey Wright, Luke Wilson, Sarah Paulson, Finn Wolfhard
OT: The Goldfinch (USA 2019)
Nicht nur die Tatsache, dass Donna Tartts 1024 Seiten starker Roman «Der Distelfink» 2014 mit dem renommierten Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde und die Leinwandadaption niemand Geringeres als John Crowley («Brooklyn») übernommen hat, ließen das zweieinhalbstündige Drama wie prädestiniert dafür erscheinen, in der kommenden Award-Season einen Preis nach dem anderen abzustauben. Auch die beispiellose Starbesetzung mit Nicole Kidman («Lion – Der lange Weg nach Hause»), Jeffrey Wright («Die Tribute von Panem»), Luke Wilson («Im Zweifel glücklich»), Sarah Paulson («Ocean’s 8»), Ansel Elgort («Baby Driver») sowie den Newcomern Finn Wolfhard («Es: Kapitel 2») und Oakes Fegley («Elliot, der Drache») verhalf «Der Distelfink» schon im Vornherein zum Status eines der meisterwarteten Filme des Jahres – bis er bei ersten Pressescreenings lief und dort überraschend durchfiel. Bei Rotten Tomatoes schlägt aktuell (Status: 16. September 2019) ein Wert von gerade einmal 25 Prozent positiver Bewertungen zubuche. Metacritic kommt ebenfalls auf einen enttäuschenden Durchschnittswert von 41. Doch liegt das wirklich „nur“ an einer enttäuschten Erwartungshaltung?
Zumindest wir können diese allzu harschen Verrisse nicht nachvollziehen. Trotzdem müssen wir zugeben: Obwohl es gerade an der ersten Hälfte von «Der Distelfink» nichts auszusetzen gibt, springt der emotionale Funke nur sehr langsam über. Und in der zweiten Hälfte kommt dann auch noch hinzu, dass der Geschichte durch ihre Verortung im weitaus weniger interessanten Hier und Jetzt (alles vorher ist von wirkungsvollen Flashbacks geprägt) spürbar die Puste ausgeht, obwohl eigentlich dann erst der richtig spannende Plot rund um das titelgebende Gemälde zum Tragen kommt.
Ein Knall... und alles ist anders
Der 13-jährige Theo Decker (als Kind: Oakes Fegley) sah seine Mutter das letzte Mal, als sie in einen anderen Ausstellungsraum des Metropolitan Museum of Art ging. Sekunden später explodierte eine Terrorbombe, die unbezahlbare Kunstwerke zerstört und auch Theos Leben für immer erschüttert. Die Tragödie verändert seinen Lebensweg und zieht eine ergreifende Odyssee zwischen Trauer und Schuld, Neuanfang und Erlösung, Freundschaft und sogar Liebe nach sich. Im Laufe dieser turbulenten Jahre bis ins Erwachsenenalter klammert sich Theo (als Erwachsener: Ansel Elgort) heimlich an ein kostbares Objekt, das seine einzige greifbare Verbindung zu seiner Mutter ist, die er an jenem entsetzlichen Tag verloren hat – das Gemälde eines winzigen Vogels, festgekettet an seiner Stange: der Distelfink.
Wie schon gesagt trägt der Film seinen Namen aufgrund des gleichnamigen Bildes, dessen Existenz sich wie ein Roter Faden durch die Handlung zieht. Bei der Explosion, bei der der Protagonist als Kind seine Mutter verliert, lässt er die gleichermaßen weltberühmte wie ungeheuer wertvolle Malerei mitgehen und behält sie fortan als letzte Erinnerung an seine verstorbene Mutter. Im weiteren Verlauf geht es allerdings weniger um das Gemälde, das immer nur mal wieder für vereinzelte Szenen auftaucht, wenn der traumatisierte Theo es mal wieder unter seinem Bett hervorholt, um es sich für einen Moment anzusehen. Stattdessen geht es vielmehr darum, wie der Halbwaise fortan versucht, den Schicksalsschlag zu verarbeiten – und dabei von einem Kurzzeit-Heim zum nächsten gereicht wird. Doch obwohl sich das Skript von Drehbuchautor Peter Straughan («Die Wahlkämpferin») genügend Zeit für jede einzelne Station in Theos Leben nimmt, bleibt der eigentlich so notwendige emotionale Punch aus, wodurch der Zuschauer bis zuletzt nur ein nüchterner Betrachter der Geschehnisse bleibt.
Egal ob sich Nicole Kidman aufopferungsvoll um den besten Freund ihres Sohnes kümmert und diesen später an Theos von einer Alkoholsucht gezeichneten, irgendwann sogar (wieder?) gewalttätigen Vater abgeben muss: Regisseur John Crowley gelingt es nicht, unter den exzellent komponierten Bildern von Kameramann Roger Deakins («Blade Runner 2049») so etwas wie einen emotionalen Kern auszumachen. Dabei ist gar nicht so leicht, festzumachen, woran das eigentlich liegt. Schließlich liefert gerade Oakes Fegley eine formidable Leistung als vom Schicksal gebeutelter Teenager ab.
Viele, viele Flashbacks
Fegley, der einem größeren Publikum durch sein Mitwirken im Disney-Abenteuer «Eliott, der Drache» bekannt wurde und in Todd Haynes «Wonderstruck» noch einmal besonders brillierte, verkörpert den innerlich aufgewühlten und sich gleichermaßen nur nach Halt und Liebe sehnenden Theo mit einem beachtlichen Verständnis für darstellerische Ambivalenz. Anstatt einfach nur durchgehend einen traurigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, macht er jede kleinste Gefühlsregung sofort sichtbar, ohne dabei sprunghaft oder unglaubwürdig zu wirken. Fegley lässt sowohl die sukzessive Heilung als auch das kontinuierliche Bestehen vereinzelter großer Wunden durchscheinen und wird so zu einem komplexen Charakter, den «Das Schicksal ist ein mieser Verräter»-Star Ansel Elgort im Erwachsenenalter leider nicht vollständig aufrechterhalten kann. Der mittlerweile zum gestandenen Schauspieler herangereifte Mime hat allerdings auch den weitaus schwierigeren Part zu bewerkstelligen, da ihn sein Teil der Handlung mitunter im Stich lässt.
Während der kleine Theo kontinuierlich mit neuen Reifeprüfungen konfrontiert wird – mal in Form eines gefährlich brodelnden Vaters, einer ihn vernachlässigenden Ziehmutter oder des Nachbarsjungen Boris, mit dem ihn zwar eine tiefe Freundschaft, aber auch die Verlockungen des alkohol- und drogengeschwängerten Erwachsenwerdens verbindet – muss Ansel Elgorts Theo erst einmal nur mit sich selbst klarkommen, eh die Geschichte im finalen Drittel schließlich vergleichsweise abstruse Züge annimmt. Die innerlich ausgefochtenen Kämpfe um Schuld und Sühne kann Elgort in «Der Distelfink» allerdings nicht zur Genüge nach außen transportieren, sodass auch die Illusion nicht aufgeht, bei ihm und Fegleys Performance handele es sich um ein und dieselbe Person.
Immerhin geht es im finalen Drittel auch endlich mehr um das Gemälde «Der Distelfink», für das bereits die Romanautorin Donna Tartt noch einige spannende Wege bereithielt. Doch während sich die durchaus konstruierten Handlungsverläufe, in dessen Zuge sich sowohl die Wege von Gemälde, Theo als auch einigen anderen aus den Flashbacks bekannten Figuren immer wieder kreuzen, bringt das Team aus Regisseur und Autor für die über ein Jahrzehnt umspannende Geschichte deutlich weniger Zeit auf. Das wirkt insbesondere im Kontrast zur ersten Filmhälfte unpassend; schließlich wird sich hier noch genügend Zeit genommen, um Theos beschwerliche Kindheit ausführlich und somit glaubwürdig zu beleuchten. Wenn «Der Distelfink» auf der Zielgeraden sogar noch in Thrillergefilde abgleitet, wirkt dieser Genrewechsel derart forciert, dass es sich kaum mehr auf die eigentlichen Stärken des Films konzentrieren lässt. Denn die hat das Drama ja ohne Zweifel. Vor allem am Rande gelingen den Machern immer wieder einfühlsame Blicke auf Themen wie Medikamentensucht, Schuldzuweisungen und nicht zuletzt die Liebe, wobei es völlig in Ordnung ist, dass die weitaus weniger spannende „Auflösung“ des Films mitunter ins Hintertreffen gerät – einfach, weil es viel interessanter ist, den Figuren bei ihrer Reifung zuzuschauen, anstatt auf Biegen und Brechen herbeizusehnen, wie die brodelnden Konfliktherde am Ende zum Erlöschen gebracht werden.
Vorgetragen wird die Geschichte derweil von einem hochmotivierten Ensemble, bei dem – wie im Falle von Nicole Kidman – sogar solche Details wie das Alters-Make-Up stimmen, um den Eindruck aufrecht zu erhalten, «Der Distelfink» handele tatsächliche viele, viele Jahre ab. Die erlesene, von warmen Farbtönen dominierte Kameraarbeit sowie der für solch einen Film sehr zurückhaltende, alles andere als Tränen provozierende Score von Trevor Gureckis («Bloodline») können die Defizite in der Erzählung ebenfalls an vielen Stellen ausgleichen.
Fazit
Die erlesen bebilderte Romanverfilmung «Der Distelfink» hat alle Zutaten für ein episch-gefühlvolles Drama und ist das über weite Strecken auch. Doch das gleichermaßen vorlagentreue wie heillos konstruierte Schlussdrittel fügt sich nicht recht in den Rest des Films, was auch damit zu tun hat, dass Ansel Elgort als erwachsene Hauptfigur hier nicht so souverän aufspielt wie sonst – und sein deutlich jüngerer Kollege Oakes Fegley als Kind. Was bleibt ist ein wirklich guter Film, aber auch einer, der weit hinter seinem Potenzial zurückbleibt.
«Der Distelfink» ist ab dem 26. September in den deutschen Kinos zu sehen.
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