Die letzte verbliebene Marvel-Serie bei Netflix endet zwar nicht mit einem Paukenschlag, aber wenigstens im kreativen Aufwind.
Die erste Staffel von «Jessica Jones» war ein Volltreffer, ein erzählerischer Schlag in die Magengrube des seit über einem Jahrzehnt anhaltenden Superheldenbooms: Eine Neo-Noir-Serie, die in einer gewitzten, dramatischen sowie spannenden Erzählung Themen wie sexuellen Missbrauch, die gesellschaftlichen und strukturellen Hürden, denen sich der Feminismus stellen muss, und emotionale Traumata verarbeitet. Die zweite Staffel von «Jessica Jones» dagegen verlor ihren thematischen Biss, trotz einzelner Verweise auf die #MeToo-Bewegung, und ihren narrativen Fokus.
Die Serie eierte in ihren 13 neuen Episoden herum und trampelte mehrmals auf der Stelle. "Netflix Bloat", nennen einige US-Kritiker diese Neigung diverser Netflix-Serien, ihre Story unnötig aufzublähen und sich darauf zu verlassen, dass das nebenher im Netz surfende, textende oder sonstwas machende Publikum es schon nicht so schwer nimmt mit den ganzen Wiederholungen und inhaltlich überdehnten Dialogpassagen.
Seit der zweiten «Jessica Jones»-Staffel sind die Marvel-Netflix-Serien gestorben wie die Fliegen. Eine nach der anderen wurde eingestellt. Es ist «Jessica Jones», die Marvel-Netflix-Serie, die als zweite gestartet ist, die als letzte endet. Und, um zwei Dinge vorwegzunehmen: Nein, es ist kein letztes Hurra für die Netflix-Ecke des Marvel-Universums, kein alles zu einem stimmigen Ende vereinender Generalumschlag. Aber, ja: «Jessica Jones» endet nicht auf dem ernüchternden Niveau der zweiten Season, sondern besser. Nur dezent besser. Aber wenigstens besser.
So hat die dritte und finale «Jessica Jones»-Staffel wieder ein greifbares Thema, das über allem steht. Es geht um die alte Sorge, die schon Sam Raimis «Spider-Man»-Filme angetrieben hat; die Wechselwirkung zwischen Kraft und Verantwortung: Die (ehemals) besten Freunde Jessica (weiterhin spitze: Krysten Ritter) und Ex-Kinderstar Trish Walker (Rachael Taylor) liegen die gesamte Staffel über im Clinch, weil sie unterschiedliche Standpunkte darüber haben, wann welcher Einsatz gerechtfertigt ist. Jessica hat Kräfte, um sie sie nie gebeten hat, die ihr wiederholt Argwohn und Probleme eingebracht haben, und sie schludert sich mit halbem Pflichtbewusstsein durch ihre Arbeit als Privatdetektivin – wenngleich sie mehr Einsatz zeigt, uneigennützig zu handeln, als früher. In Trishs Augen verbringt Jessica aber zu viel Zeit mit One-Night-Stands und Besäufnissen, wohingegen Trish, die mittlerweile ebenfalls an Kräfte gelangt ist, hart trainiert und sich mit riesigem Eifer ins Heldinnendasein stürzt – übereifrig und leichtsinnig, wie Jessica befindet.
Teilweise liegen sich Jessica und Trish deswegen in den Haaren, arbeiten sogar gegeneinander – dann wieder arbeiten sie zähneknirschend gemeinsam an einem Fall, was aber nicht lange gut geht. Die wacklige, gereizte Dynamik zwischen Jessica und Trish ist quasi das Rückgrat dieser Staffel. Taylor und Ritter gefallen als sich anfeindende Freundinnen – Ritters trockener Sarkasmus und Taylors forschere Art reiben sich auf kurzweilige Art und man kauft den Schauspielerinnen ab, dass ihre Figuren sich eigentlich mögen, sie aber allmählich auseinanderdriften. Doch die Skripts legen diesem zentralen Plotfaden Steine in den Weg:
Jede Station auf dieser erzählerischen Reise zu einem unvermeidlichen Ende wird über Gebühr ausgekostet, wohingegen die Zwischenphasen sprunghaft ausfallen. Da sind sich die Beiden erst spinnefeind, was das Skript mehrmals ohne größere Varianz unterstreicht, dann wird der Wandel zurück zu einem leicht antagonistischen Miteinander hastig abgerissen Anfälle von "Netflix Bloat" zeigen sich zum Beispiel auch, wenn in den ersten Folgen wiederholt erläutert wird, dass/weshalb Trish nun ebenfalls Superkräfte hat. Einmal hätte gereicht, idealerweise allein in Form der emotionalen Abfolge von Montagesequenzen in der zweiten Episode der Staffel, griffig inszeniert von Krysten Ritter.
Dass wir es in «Jessica Jones» nun mit zwei Superheldinnen zu tun haben, die beide in moralische Dilemmata rennen, erlaubt es den Actionszenen indes, mehr Varianz zu entwickeln, da Jessica und Trish mit unterschiedlicher Energie und unterschiedlichen Kampfstilen zur Sache gehen. Doch stellenweise fragt man sich auch, wo das Budget geblieben sein mag: Einige holprige Schnitte nehmen kleineren Scharmützeln jeglichen visuellen Punch. Mehr Punch hat wiederum eine weitere tragende Frage dieser Staffel: Jessica und Trish sind einem Serientäter auf der Spur – einem gänzlich menschlichen, quasi handelsüblichen Mistkerl, der keinerlei Kräfte hat und dem auch die normale Polizei auf die Schliche kommen könnte, würde der Typ nur mal einen Fehler machen.
«Jessica Jones» wirft mit diesem Handlungsfaden die Frage auf, ob es für die Protagonistinnen vertretbar wäre, den Mann auszuschalten, ehe er weitermordet – und ob sie generell das ethische Anrecht darauf haben, als Superheldinnen Schurken ohne Superkräfte zu jagen. Und auch, wenn dieses Dilemma den Figuren ein paar spitz geschriebene Dialoge entlockt, plätschert dieser Fall im Mittelteil der Staffel vor sich hin – es sind knackiger gehaltene Nebenschauplätze wie Jessicas und Trishs unterschiedlicher Umgang mit Prominenz (in Jessicas Fall mit aufkommender, in Trishs mit schwindender), die am besten vorführen, was aus den Marvel-Netflix-Serien hätte werden können, hätten sich die Verantwortlichen die Zeit genommen, zu überprüfen, wo sie die Formate überall hätten feinschleifen sollen.
Aber was soll's. Nun haben wir es ja hinter uns.
«Jessica Jones» ist via Netflix abrufbar.
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