Hervorragend geschrieben, toll besetzt und brillant inszeniert: In seiner neuen Serie erzählt Netflix von einem der größten amerikanischen Justizskandale der letzten Jahrzehnte.
Am 19. April 1989 gegen 21.00 Uhr treiben sich ungefähr drei Dutzend hauptsächlich afroamerikanische und hispanische Jugendliche aus Harlem im Central Park herum. Sie führen nichts Gutes im Schilde, belästigen Passanten, verkloppen Radfahrer, rauben Leute aus. Sie nennen das
Wilding. Das klingt abscheulich, ist aber zu dieser Zeit kein völlig ungewöhnlicher Vorgang: Bis weit in die 90er Jahre gilt New York City im Rest von Amerika als gemeingefährliches Dreckloch, kriminell bis ins Mark, abgewirtschaftet und verkommen.
Als die Freizeitkriminalität der Harlemer Halbstarken überhandnimmt, greift die Polizei ein und verhaftet unter teils exzessiver Gewaltanwendung alle, die sie kriegen kann. Erst am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass etwa zur selben Zeit eine 28-jährige (weiße) Joggerin im Park so brutal vergewaltigt und misshandelt wurde, dass sie jetzt im Koma liegt. Staatsanwältin Linda Fairstein (Felicity Huffman) ist überzeugt, dass ein paar der inhaftierten Straßenrowdys vom Vorabend damit zu tun haben.
Die Polizei legt harte Bandagen an, und nach einigen fehlgeleiteten
Good-Cop-Bad-Cop-Spielchen, systematischen Bedrängungen und Übergriffigkeiten legen die später als
Central Park Five bekannten Jugendlichen ausgedachte Geständnisse ab oder beschuldigen sich gegenseitig. Für Verurteilungen wird es reichen. Sie werden viele Jahre in New Yorker Gefängnissen zubringen, bevor lange später der wahre Täter gestehen wird. «When They See Us» ist die Geschichte eines kolossalen Justizirrtums.
Schon mit Produktionen aus anderen Genres – «Stranger Things» oder «Mindhunter» – hat Netflix ein besonderes Händchen dafür bewiesen, in seinen
Period Dramas unaufgeregt und angenehm beiläufig einem Zeitgeist nachzuspüren: «When They See Us» mutiert schnell gewissermaßen zur Kür dieser Disziplin: Vom
Look and Feel über die damaligen soziopolitischen Haltungen bis hin zu feinen Darstellungen der Milieus und Sujets dieses Stoffes stimmt so gut wie alles.
Gleichzeitig funktioniert diese Serie jedoch nicht nur als Zeitstück, sondern vielmehr als einnehmendes Justizdrama, das sich seinen Figuren mit großer Offenheit nähert. Der Umstand, dass den
Central Park Five am Schluss die verdiente Genugtuung zuteilwird, von den falschen Anschuldigungen freigesprochen zu werden und obendrein eine adäquate Entschädigung zu erhalten, bedeutet nicht, dass sie durchgehend als aufrichtige Charaktere geführt werden – schließlich sind sie in anderen Belangen nicht frei von Schuld.
Den Ermittlerfiguren nähert sich diese Serie mit ähnlicher Differenzierung. Staatsanwältin Fairstein wirkt in ihren Tat- und Täterbeschreibungen wie selbstverständlich getrieben von ethischen Zuordnungen und überschreitet dabei – wenn auch ohne offensichtlichen bösen Willen – mehr als einmal die Grenze ins Unsagbare. Gleichzeitig verfolgt sie in aufrichtiger Weise ein erstrebenswertes Ziel: den wahren Täter dingfest zu machen.
Ein ebenso waches Auge wirft Showrunnerin Ava DuVernay auf die New Yorker Polizei, die in Teilen völlig dem Corpsgeist verfallen ist, und die vereinzelten Stimmen innerhalb der Organisation, die diesen Umstand aufbrechen wollen. Weder die Täter- noch die Opferfiguren sind vollends ohne Makel oder ihre ehrlichen, aufrichtigen Seiten. Am Schluss stellt «When They See Us» nicht so sehr die (historische) Frage, bei wem genau die Schuld für den Justizskandal liegt, sondern weist vielmehr mit großem erzählerischen Geschick auf die gesellschaftlichen Mechanismen hin, die ihn überhaupt ermöglicht haben – und die sind im Amerika von
Black Lives Matter so aktuell wie vor dreißig Jahren.
«When They See Us» ist bei Netflix verfügbar.
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