Ein amerikanisches Medium hat die große Quoten-Depression ausgerufen. Tatsächlich haben die Sender immer weniger Zuschauer – und CBS schlägt mit «The Red Line» neue Töne an: politisch, hochrelevant. Funktioniert das?
Cast & Crew «The Red Line»
- Idee: Caitlin Parrish, Erica Weiss
- Darsteller: Noah Wyle, Emayatzy Corinealdi, Aliyah Royale, Noel Fisher, Michael Patrick Thornton u.a.
- Regie (Pilot): Victoria Mahoney
- Ausf. Produzenten: Caitlin Parrish, Erica Weiss, Sunil Nayar, Ava DuVernay, Greg Berlanti u.a.
- Produktion: Warner Bros. TV für CBS
- Folgen: 8 (je ca. 42 Min.)
Noah Wyle, einstiger Star der Krankenhausserie «ER», ist zurück in Chicago. Damit kehrt er zu seinen Wurzeln zurück, allerdings in einer ganz anderen Rolle als damals: Im Drama «The Red Line» spielt Wyle den Highschool-Lehrer Daniel, der seinen Ehemann bei einem tragischen Vorfall verliert. Diesmal steht er also auf der anderen Seite, auf der Seite der Opfer. Sein Mann, ein african-american Doktor, wird in einem Kiosk aufgrund einer Verwechslung erschossen. Der weiße Cop, der die Kugel abfeuert, hat ihn für einen Geldräuber gehalten. Dieser aber ist längst geflohen, als die Polizei eintrifft.
Was also zu Beginn von «The Red Line» steht, sind ein toter Körper in einem schmutzigen Kiosk, eine tödliche Verwechslung und ein Fall, der seine Konsequenzen nach sich ziehen wird. Die neue Serie des US-Senders CBS spinnt die Geschichte von diesem Vorfall aus dreierlei fort: einmal aus Sicht des zurückgelassenen Ehemannes Daniel, einmal aus der Sicht des Cops und seiner Familie, und einmal aus der Sicht einer ambitionierten Polit-Karrierefrau, die zunächst nichts mit dem Tod von Daniels Ehemann zu tun haben scheint. Schnell stellt sich heraus, dass Tia die Mutter von Daniels Adoptivtochter Jira ist – und unschlüssig ist, ob sie kurz vor deren 18. Geburtstag erstmals wieder Kontakt mit ihr aufnehmen will.
«The Red Line» spricht aktuelle, sensible Themen an, die besonders in den USA die Gesellschaft bewegen: Rassendiskriminierung (und Schwarze als Opfer polizeilicher Gewalt), Fairness und Zugehörigkeit. Die Serie versucht sich diesen Themen auf große Art zu nähern, mit drei großen Familiengeschichten und unterschiedlichen Blickwinkeln. Dafür gebührt dem ausstrahlenden Sender CBS Respekt. Zwar verliert sich das Drama aufgrund der breiten Erzählweise manchmal und ist bisweilen langatmig, aber es ist politisch und hochrelevant. In Zeiten erfolgreicher Familienkomödien und eskapistischer Procedurals ohne gesellschaftliche Bedeutsamkeit ist dies ein Experiment für CBS, das gleichwohl zunächst nur als Miniserie konzipiert ist. Dabei wird es wohl auch bleiben, blickt man auf die extrem schwachen Einschaltquoten in den USA von zuletzt weniger als vier Millionen Zuschauern.
Die große Quoten-Depression
Mit diesen Zahlen stellt sich die interessante Frage: Wie relevant sind die Networks überhaupt noch und wie können Sie die Gesellschaft erreichen? «The Red Line» ist hochrelevant, die Zuschauerzahlen zeigen aber, dass das Format nicht angenommen ist – de facto also als irrelevant verbucht werden muss. Die Networks erreichen immer weniger Zuschauer, absolut und relativ: Zum einen schwindet die Dauer des Fernsehschauens in den USA, die ihren Höchststand um das Jahr 2008 erreichte und danach langsam, aber stetig absank. Zum anderen erreichen die Networks relativ gesehen immer weniger Zuschauer, die sich in den vergangenen Jahren mehr den Kabel- und Pay-TV-Sendern sowie den Streamern zugewendet haben.
Fast jede Serie und Show bei den Networks verliert jedes Jahr Zuschauer – weil die absoluten Zahlen derjenigen schrumpfen, die klassisches Network-Fernsehen überhaupt noch konsumieren. Es geht also kaum darum, wie man Zuschauer gewinnt – sondern eher darum, dass man möglichst wenige verliert. Das amerikanische Online-Medium Vulture hat diese Zeit als „Ära der Quoten-Depression“ bezeichnet, als
era of depressed ratings. Ein Vergleich: In der Season 2013/14 summierten sich die absoluten Zuschauerzahlen der vier großen Networks (CBS, NBC, ABC, FOX) auf 35,0 Millionen, während in der bald zu Ende gehenden Season 27,6 Millionen zu Buche stehen – ein Minus von mehr als 20 Prozent. Bei den werberelevanten 18- bis 49-Jährigen sieht es noch düsterer aus: Lag das kumulierte Rating der vier Sender 2014 noch bei 9,7 Punkten, so kommt man aktuell auf 6,2 Punkte – dies sind über 35 Prozent weniger als fünf Jahre zuvor.
Mit dieser Entwicklung schrumpfen die Werbegelder, die längst nicht mehr allein entscheidend sind für den Erfolg einer Serie: Es geht zunehmend um Vermarktungsmöglichkeiten und alternative Einnahmequellen, beispielsweise die Möglichkeit, über die Zweitverwertung mit Streaming oder in der Syndiation Geld zu verdienen. Seit 2016 gehen die nationalen TV-Werbeeinahmen zurück. Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen, mit noch größerer Fallhöhe. Im gleichen Jahr 2016 überstiegen die Werbeausgaben für digitale Medien erstmals diejenigen fürs Fernsehen. Und gleichzeitig wird der Durchschnittszuschauer bei den Networks immer älter, weil Jüngere andere Entertainment-Angebote konsumieren und teilweise nicht einmal mehr einen Fernseher besitzen. Während der Fernsehkonsum bei den Menschen ab 50 Jahren in den vergangenen sechs Jahren stabil blieb, fiel er in den Altersgruppen bis 35 Jahre um 35 bis 48 Prozent.
Der erfolgreichste Neustart in diesem Jahr, «Manifest», hatte von anfangs zehn Millionen zuletzt gerade noch gut fünf Millionen Zuschauer. Und gilt trotzdem als Erfolg in diesen Zeiten. Vielleicht ist dies auch ein Produkt veränderter Sehgewohnheiten, gerade bei den Jüngeren: Viele wollen nicht mehr eine Woche auf die nächste Folge warten, sondern gleich weiterschauen – wie beim Streaming gewohnt. Auch ein für CBS-Verhältnisse experimentelles Drama wie «The Red Line» ist nicht der Schlüssel zum Erfolg, wie gezeigt. Es ist eine gute Serie, die entdeckt werden will. Und sich bei CBS irgendwie am falschen Platz anfühlt. Auch das ist ein Problem der klassischen TV-Networks. Eines von vielen.
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