Nach einer Idee von Mark Ruffalo: Das Drama «Anything» passt in keine Schublade und überzeugt vor allem deshalb.
Filmfacts: «Anything»
- Start: 09. Mai 2019
- Genre: Drama/Romanze
- Laufzeit: 94 Min.
- FSK: 12
- Kamera: James Laxton
- Musik: Andreas Lucas, Isley Reust
- Buch und Regie: Timothy McNeil
- Darsteller: John Carroll Lynch, Matt Bomer, Maura Tierney, Margot Bingham, Michael Boatman, Tanner Buchanan
- OT: Anything (USA 2017)
Regisseur und Drehbuchautor Timothy McNeil hat vor «Anything» hauptsächlich als Schauspieler gearbeitet und 2011 das unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufene Drama «Emily» inszeniert. Trotzdem konnte er für «Anything» gleich eine ganze Handvoll namhafter Hollywoodstars für sich gewinnen. Allen voran John Carroll Lynch («The Founder»), der sich in der melancholischen Liebesgeschichte als unverhoffter Witwer in seine transsexuelle Nachbarin (Matt Bomer) verliebt. Erst zum Film wurde die Story allerdings, weil ausgerechnet Mark Ruffalo, der aktuell in «Avengers: Endgame» ohne Ende Erfolge feiert, seine Idee dafür aus der Hand gab. In «Anything» übernahm er nur noch eine Produzentenrolle und überließ McNeil das Feld. Es wäre spannend gewesen, zu sehen, wie ein Mark Ruffalo mit diesem Stoff umgegangen wäre; schließlich ist der gebürtig aus Wisconsin stammende Schauspieler gleichermaßen im Hollywood- wie Programmkino zuhause und hatte daher genügend Zeit gehabt, sich für seine zweite Regiearbeit nach «Sympathie for Delicious» aus dem Jahr 2010 alle möglichen Skills abzuschauen.
Timothy McNeil bleibt für seine Version von «Anything» angenehm reduziert und spielt damit auch der Geschichte in die Hände, die letztlich einfach nur eine Liebesgeschichte ist. Zu etwas Besonderem machen sie der Einfluss von außen.
Die Freude am Leben verloren
Der Mittfünfziger Early (John Carroll Lynch) verliert nach dem Unfalltod seiner Frau den Boden unter den Füßen. In seiner Verzweiflung versucht er, sich das Leben zu nehmen. Seine Schwester Laurette (Maura Tierney) macht sich Sorgen um ihn und lässt ihn eine Zeitlang bei sich wohnen, aber er möchte wieder sein eigener Herr sein und sucht sich eine Wohnung in Hollywood. Dieser Plan stößt bei seiner Schwester auf Ablehnung. In dem etwas heruntergekommenen Haus, in dem er wohnt, lernt er die transsexuelle Freda (Matt Bomer) kennen. Sie arbeitet als Sexarbeiterin. Und als sie eines Abends grün und blau geschlagen nach Hause kommt, kümmert sich Early um sie. Beide kommen sich immer näher und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf...
John Caroll Lynch etabliert seinen Early Landry zwar von Anfang an als grummeligen und im wahrsten Sinne des Wortes des Lebens müde gewordenen Eigenbrötler, doch lässt er dabei die versteckte Liebenswürdigkeit seiner Figur jederzeit durchscheinen. Das Leben hat ihm übel mitgespielt. Und wenn er letztlich so verzweifelt ist, dass er versucht, Suizid zu begehen, einfach weil er ohne seine geliebte Ehefrau nicht mehr leben möchte, dann wirkt das von der Darstellung, Inszenierung und im Anbetracht der Umstände nicht etwa wie eine verabscheuungswürdige Verzweiflungstat, sondern wie der einzig logische Schritt im Leben dieses einsamen Early. Auch das familiäre Umfeld bestätigt diesen Eindruck: Bevormundung, Missverständnisse und unterschwellig brodelnde Konflikte – allen voran ausgetragen mit seiner Schwester Laurette (Maura Tierney) – machen das Leben für Early auch nach seinem Selbstmord nicht gerade zu einer fröhlichen Angelegenheit, selbst wenn man der zuletzt in «Beautiful Boy» zu sehenden Schauspielerin jederzeit abnimmt, dass ihre Figur eigentlich nur das Beste für ihren Bruder will.
Trotz dieses dysfunktionalen Familiengefüges, in das auch irgendwann Earlys Schwager und Neffe mit hineingezogen werden (der eine lässt sich davon mehr, der andere weniger beeindrucken), arbeitet Timothy McNeil immer auch die positiven und sogar leicht humoristischen Seiten einer solchen Situation heraus. Wenn Early Laurette gegenüber den Wunsch äußert, nach Hollywood ziehen zu wollen, weil das eben „gerade weit genug weg von ihr“ sei, dies aber absolut positiv zu verstehen sei, dann schwingt im Wissen um das Verhältnis zueinander gleichermaßen mit, dass man sich immer auch respektiert und achtet.
Doch noch viel mehr als eine Geschichte über ein sich entfremdendes Geschwisterpaar ist «Anything» eine Liebesgeschichte. Und die trägt Timothy McNeil ihrer offensichtlichen Unkonventionalität zum Trotz mit so viel Leichtigkeit und Aufrichtigkeit vor, dass die Kollision mit allem, was gegen sie spricht, umso schwerer wiegt. Wenn sich Early und die transsexuelle Freda eines Abends in seiner Wohnung kennenlernen, wird dieses erste Aufeinandertreffen zwar von der exzentrischen Attitüde Fredas geprägt und von Earlys trocken-zurückhaltender Schwerfälligkeit abgefedert. Gleichwohl geht dieser erste Kontakt auch nicht anders vonstatten als man es bei einem heterosexuellen Paar inszenieren würde. Das hierin eine gewisse Kalkulation steckt, entdeckt man später, wenn Early auch seine Familie mit seinem neuen Glück bekannt machen will.
Wo die zarte Liebe zwischen ihm und Freda in dem abseitigen Mietshaus irgendwo im hintersten Hollywood (und damit abseits der Reichen und Schönen) zu einem völlig normalen Bild gehört, reagiert Earlys Schwester regelrecht empört. Dieser Bruch zwischen der schönen Aufgeschlossenheit und der hässlichen Sturheit ist es, aus dem „Anything“ all seine erzählerische Kraft schöpft.
Apropos schön: Dass «Anything» zwei Jahre nach Fertigstellung doch noch die große Leinwand erreicht, ist zumindest im Anbetracht der Produktionsumstände alles andere als selbstverständlich. Wie ein klassischer Kinofilm sieht das romantische Drama nämlich nicht aus und selbst für eine äußerst schmalbudgetierte Independent-Produktion, wie sie «Anything» ja nun einmal ist, wirken manche Aufnahmen nur bedingt durchdacht. Der harte Schnitt und die zum Teil verwackelte und unscharfe Kamera vermitteln einem zwar ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, von Improvisation und der Abwesenheit von Regeln. Doch genauso wie Freda durch die Straßen, taumeln auch wir als Zuschauer immer mal wieder ziellos durch den Film und lassen uns scheinbar völlig ziellos treiben. Das lässt das ganze Szenario zwar umso authentischer wirken; selbst die bisweilen nur angerissenen Nebenplots um alle möglichen Nachbarn in Earlys Haus scheinen in ihrer beschränkten Berücksichtigung genau die richtigen Akzente zu setzen, damit sich in «Anything» das Gefühl für eine ganz bestimmte Gesellschaftsschicht ergibt.
Trotzdem wirkt die Dramaturgie dadurch auch immer mal wieder holprig; der Autor und Regisseur mehr planlos als ambitioniert; der Film unentschlossen anstatt gewissenhaft durchdacht. Am Mitgefühl für die Figuren, am Hoffen auf ein Happy End und an der Freude am gemeinsamen Glück ändert sich jedoch nichts. Early und Freda werden zu einem der berührendsten Liebespaare des Kinojahres – und erhalten eine Schlusssekunde, wie sie besser kaum sein könnte.
Fazit:
«Anything» eine eine unangepasste, rührende Liebesgeschichte, die all ihre kleinen Schönheitsfehler durch Herzlichkeit und Aufrichtigkeit wieder wettmacht.
«Anything» ist ab dem 9. Mai in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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