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«Osmosis»: Willkommen in der Zukunft

Die neue Netflix-Serie aus Frankreich wagt einen kühnen Blick in die Zukunft, mit dem sie gar nicht so falsch liegen könnte. Noch dazu ist sie hervorragend erzählt und exzellent besetzt.

Cast & Crew

Produktion: CAPA Drama
Schöpferin und Executive Producer: Audrey Fouché
Darsteller: Hugo Becker, Agathe Bonitzer, Stephane Pitti, Gael Kamilindi, Susanne Rault-Balet, Luna Silva, Manoel Dupont et beaucoup plus d'autres
Digitaler Wegwerfsex mithilfe von extrem realitätsnaher virtueller Realität ist in der Welt von «Osmosis» bereits Alltag. Das Geschwisterpaar Paul (Hugo Becker) und Esther (Agathe Bonitzer) will mit seinem Tech-Start-up einen Weg raus aus dieser anonymen Algorithmen-Tristesse gefunden haben und eine Alternative aufzeigen. Ihre Technologie, Osmosis, offenbart seinem Anwender mithilfe implantierter Nanoroboter im Gehirn seinen Seelenpartner. Dann muss er ihn nur noch kontaktieren, eine Beziehung anbahnen und das Leben wird perfekt.

So klingt das zumindest in Pauls selbstbewusst-philosophischen Marketing-Vorträgen. Den Ursprung nahm Osmosis – das wird schon früh offenbart – drei Jahre zuvor, als Paul im Koma lag. Seine Schwester implantierte ihm damals einen Chip, um ihn aus der Bewusstlosigkeit aufzuwecken. Es funktionierte. Irgendwann erschien ihm das Bild von Joséphine, einer ihm bis dato unbekannten Balletttänzerin, mit der er seitdem zusammenlebt und leidenschaftlichen Tele-Sex hat. Bisher nicht retten konnte Esther ihre Mutter, die ebenfalls im Koma liegt. Esthers neuer Plan sieht vor, ein paar Probanden aus der Osmosis-Testphase zu benutzen, um sie mithilfe implantierter Erinnerungen wieder zurück ins Leben zu holen – was selbst in der eher lax regulierten Zukunftswelt dieser Serie vollkommen illegal wäre.

Natürlich funktioniert bei diesem Algorithmus trotz vielversprechender Anfänge nicht viel wie geplant. Durch die schrittweise Eskalation kann die Serie dabei einen gut funktionierenden Spannungsbogen aufbauen. Doch schon in der grundsätzlichen Prämisse liegen jenseits des erzählerischen Zündstoffs zahlreiche wohldurchdachte sozialkritische Ansätze. Anders als in alten Folgen der «Twilight Zone» oder in ihrer modernen Abwandlung «Black Mirror» begnügt sich «Osmosis» nicht mit einem kurzen Ideenimpuls anhand einer möglichst zugespitzten Vorstellung, was mit der Welt und der Gesellschaft passieren könnte, wenn die Menschheit im Zuge des technologisch-philosophischen Fortschritts einmal falsch abbiegen sollte. Mit acht Folgen ist allein die Laufzeit dieser Serie deutlich opulenter angelegt, wodurch ihr zahlreiche Gelegenheiten offenstehen, ihre ins Feld geführte Vorstellung von der Zukunft bis ins Detail auszuschmücken – was sie mit großer Freude und erzählerischer Eleganz auch tut.

Das Erschaffen einer Welt, die so oder so ähnlich unter nicht völlig abwegigen Bedingungen tatsächlich existieren könnte, die aber gleichzeitig von unserer schon in ihren Grundprinzipien deutlich zu unterscheiden ist, ist eine erzählerisch enorm diffizile Angelegenheit: eine zu starke Überspitzung, eine Unglaubwürdigkeit zu viel, ein nicht aufgelöster Widerspruch, eine erzählerische Inkohärenz – und der Zuschauer fällt aus ihr heraus. Doch «Osmosis» meistert diesen Balanceakt mit Bravour und ist weder um die groben Linien – „Das Virtuelle hat das Gefühl getötet. Aber die Menschen haben ein Recht auf Liebe“, ist Pauls Mantra – noch um die filigranen Nuancen dieser Welt verlegen.

Gleichzeitig hält sich die Serie mit Wertungen und Kommentierungen – erst recht den impliziten – sehr zurück. Die Charaktere, die im großen Stil die Welt umbauen und in aus heutiger Sicht abstoßende Bahnen lenken, handeln mit guten Intentionen und wachem Verstand. Ebenso führt ihre Technologie „Osmosis“ nicht nur Fehltritte und Pervertierungen des sozialen Lebens herbei, sondern hilft Menschen tatsächlich aus ihrer (selbstverschuldeten?) Isolation. Zumindest in ihren ersten Folgen lässt die Serie offen, ob sie eine Utopie oder eine Dystopie schildert – und das ist in diesem Fall keine herumdrucksende Haltungslosigkeit, sondern genau der richtige Ansatz: Die Welt von «Osmosis» ist zu komplex für Eindeutigkeiten.

So punktgenau wie diese Serie erzählt, fällt auch ihre Inszenierung aus: Die beiden Hauptdarsteller, Hugo Becker und Agathe Bonitzer, spielen angenehm reduziert und dabei nur umso emotional einnehmender. Mit wachem Blick für die Ambivalenzen ihrer Charaktere machen sie ihre zahlreichen Zwischentöne und Facetten deutlich. Ein zurückhaltend futuristischer Score und eine um jede Exzentrik bereinigte Ausstattung passen ferner perfekt zum intellektuellen Ansatz dieses Formats: «Osmosis» ist kein Technopanikstoff und keine überkandidelt-pathetische Warnung, sondern die ernsthafte Begegnung mit einer Möglichkeit.

Mit seiner thematischen Stoßrichtung erinnert dieses Format an eine andere internationale Netflix-Produktion: die brasilianische Serie «3%», die gleichsam einen deutlichen, wenn auch etwas fernliegenderen Blick in die Zukunft wagte, und dafür das große gesellschaftliche Pulverfass Lateinamerikas – die enorme soziale und wirtschaftliche Ungleichheit – konsequent fortschrieb. Auch «Osmosis» geht in seiner Prämisse von einer Fortsetzung der tatsächlichen Entwicklung und ihrer Verschärfung aus, und gibt so den Zuschauern einen klaren, aber wertungsfreien Einblick, was sie erwarten könnte.

Netflix zeigt «Osmosis» ab Donnerstag, den 29. März.
25.03.2019 11:20 Uhr Kurz-URL: qmde.de/108150
Julian Miller

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Tags

Osmosis Twilight Zone Black Mirror 3%

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