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Die Kritiker: «Die Unsichtbaren»

Bis zu 7.000 Juden lebten in Berlin während der Shoah im Verborgenen. Anhand von Zeitzeugen-Interviews und nachgestellten Sequenzen erschafft dieser Film ein einnehmendes Porträt ihrer Geschichten.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Max Mauff als Cioma Schönhaus
Alice Dwyer als Hanni Lévy
Ruby O. Fee als Ruth Arndt
Aaron Altaras als Eugen Friede
Florian Lukas als Werner Scharff
Victoria Schulz als Ellen Lewinsky
Laila Maria Witt als Stella Goldschlag

Hinter der Kamera:
Produktion: Cine Plus Filmproduktion GmbH, LOOK! Filmproduktion und Maze Pictures GmbH
Drehbuch: Claus Räfle und Alejandra López
Regie: Claus Räfle
Kamera: Jörg Widmer
Produzenten: Claus Räfle und Jörg Schulze
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als die Transporte in den Osten zur dortigen systematischen Ermordung begannen, tauchten zeitweise bis zu 7.000 Juden mit fingierten Identitäten, ausgedachten Lebensläufen und allerhand aus der Not geborener Lebenskünstlerei in Berlin ab. Anhand einiger exemplarischer Beispiele, unterfüttert durch Interviews mit den realen Personen, führt dieser Film ihr Leben im Untergrund vor:

Eine siebzehnjährige Waise färbt sich die Haare blond und vertreibt sich ihre Zeit in den beheizten Kinosälen bei der „Deutschen Wochenschau“ und allerhand eskapistischen Schnulzen. Wenn sie mit einer jüdischen Freundin unterwegs ist, tragen die Beiden einen Schleier, um sich als Kriegswitwen auszugeben. Sie findet bei verschiedenen aufrichtigen Deutschen Unterschlupf, zuletzt bei einer Frau, die Mann und Sohn im Krieg verloren hat, und die sie faktisch als Tochter annimmt.

Ein anderer Jude hat ein Talent für das Fälschen allerhand offizieller Dokumente, das ihm und zahlreichen anderen Verfolgten zum Nutzen gereicht. Ein ranghoher Beamter in der Finanzverwaltung des Deutschen Reiches bestellt die gefälschten Papiere bei ihm zu Dutzenden, um haufenweise Menschen vor der Vernichtung zu bewahren.

Wieder ein Anderer fand Kontakt zu einer kommunistischen Familie und zwei ehemaligen Insassen des Vernichtungslagers Theresienstadt, denen der Ausbruch geglückt war. Nachdem sie von der dortigen Mordmaschinerie berichtet hatten, blieb ihnen und ihren Zuhörern in ihrer Aufrichtigkeit nichts anderes mehr übrig als die Bildung einer Widerstandsgruppe – die schließlich aufflog.

Sie alle einte die Einsamkeit, die Ungewissheit, das Exil im eigenen Land, die Angst vor dem Entdecktwerden und die Erleichterung, den bitteren Repressalien und deutschen Unmenschlichkeiten gerade noch entgehen zu können, ihre Hoffnung und ihre Enttäuschungen, ihr Lebenswille und – das wird in den Interviewpassagen deutlich – ihr beachtlicher Großmut.

In der Realität haben sich die Biographien der verschiedenen Protagonisten während ihrer Zeit im Berliner Untergrund nie gekreuzt, weshalb dieser Film episodenhaft bleiben muss. Trotzdem findet er zu einer sehr klaren und eingängigen Struktur, verwebt kunstvoll die verschiedenen Erzählstränge und kann aus den reichhaltigen Erlebnissen der in ihm verarbeiteten Lebensläufe ein einnehmendes Mosaik dieser Persönlichkeiten und ihrer besonderen Situationen formen.

Mit verblüffender Leichtigkeit gelingt es ihm dabei, die beiden konträren Anforderungen an eine historische Doku-Fiction – ihre Funktion als intellektuell erhellendes Dokument und ihr Anspruch, über das Verständige hinauszugehen und auch emotional und erzählerisch zu verfangen – wunderbar zu erfüllen, ohne dass die Eine die Andere beeinträchtigt. So entstand ein faszinierendes Porträt von einer Handvoll Lebensläufen, das seinen Charakter als eindringliche Mahnung wohldosiert und damit umso effektiver einsetzt.

Solche Geschichten vertragen keine überbordende Sentimentalität – im Gegenteil: Sie werden durch einen lebens- und realitätsnahen Vortrag nur umso eindringlicher. An einer Figur in diesem Film wird das besonders deutlich: Stella Goldschlag, einer deutschen Jüdin, die im Auftrag der Gestapo andere Juden im Untergrund an die deutschen Behörden verriet, um sich selbst und ihre Familie zu schützen. Wegen eines gerade über sie erschienen Buches – das von der „Süddeutschen Zeitung“ als Ärgernis, Beleidigung und Vergehen am prägnantesten rezensiert wurde – ist Goldschlag gerade beliebter Gegenstand von Leitartikeln, Literaturkritiken und Feuilletonabhandlungen. Wer nach dem triefend nichtssagenden Werk von Takis Würger eine angenehm differenzierte und haltungsvolle Würdigung dieser Person wünscht, sei mit noch größerem Nachdruck auf diesen Film verwiesen.

Das Erste zeigt «Die Unsichtbaren» am Mittwoch, den 16. Januar um 20.15 Uhr.
16.01.2019 09:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/106537
Julian Miller

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Die Unsichtbaren

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