In der musikalischen Tragikomödie «So viel Zeit» versucht Jan Josef Liefers als abgehalfterter Rockstar Rainer, noch einmal seine längst entzweite Band zusammenzukriegen. Dafür bleibt ihm nicht viel Zeit.
Filmfacts: «So viel Zeit»
- Start: 22. November 2018
- Genre: Tragikomödie
- Laufzeit: 101 Min.
- FSK: 6
- Kamera: Thomas Dirnhofer
- Musik: Michael Kadelbach
- Buch: Stefan Kolditz
- Regie: Philipp Kadelbach
- Darsteller: Alwara Höfels, André M. Hennicke, Armin Rohde, Jan Josef Liefers, Jürgen Vogel, Laura Tonke, Matthias Bundschuh, Ruchy Müller
- OT: So viel Zeit (DE 2018)
Schon vier Romane des Bochumer Buchautoren Frank Goosen wurden fürs deutsche Kino adaptiert: «Liegen lernen» 2003, «Radio Heimat» 2016, «Sommerfest» ein Jahr später und nun eben «So viel Zeit». Alle Vorlagen eint der Lokalpatriotismus für den Ruhrpott; Goosens Geschichten sind immer auch Liebeserklärung an seine Heimat und fangen auf ebenso charmante wie ehrliche Weise diese ganz spezielle Atmosphäre ein, irgendwo zwischen Verklärung und aufrichtiger Auseinandersetzung mit den Spleens und Eigenheiten der Ruhrpott-Bewohner. Doch so ehrlich muss man sein: Langsam aber sicher wiederholen sich die Motive. Wie passend ist es da, dass es in der musikalischen Tragikomödie «So viel Zeit» eben nicht mehr hauptsächlich darum geht, wo die Geschichte spielt, sondern mehr darum, wer darin behandelt wird.
Philipp Kadelbachs charmanter Mix aus Komödie und Drama, Roadmovie und Konzertfilm könnte ebenso gut in jedem anderen deutschen Territorium spielen. Entscheidend sind die Figuren. Und mit denen, vor allem aber mit deren Besetzung trifft der aktuell für die gefeierte TV-Serie «Das Parfum» verantwortlich zeichnende Kadelbach voll ins Schwarze, was einen das holprige Finale und kleinere erzählerische Banalitäten locker verschmerzen lassen.
Sex & Drugs & Rock ’n‘ Roll?
Nein, Rainers (Jan Josef Liefers) Leben läuft ganz und gar nicht so, wie er sich das als junger Mann erträumt hat. Sein Job langweilt ihn, seine Frau hat ihn verlassen und sein Sohn hätte sich einen tolleren Papa gewünscht. Außerdem gibt es eine Sache, die Rainer in seinem Leben richtig verbockt hat: Damals vor 30 Jahren hat er den Durchbruch seiner Band „Bochums Steine“ auf offener Bühne ruiniert. Seine Bandkollegen Bulle (Armin Rohde), Konni (Matthias Bundschuh), Thomas (Richy Müller) und besonders Ole (Jürgen Vogel) haben ihm das nie verziehen. Das verfolgt ihn bis heute. Als wäre das alles nicht genug, eröffnet ihm seine Ärztin, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Ende der Durchsage? Im Gegenteil. Rainer beschließt, noch einmal alles zu geben und startet durch. Eine Sache will er in seinem Leben richtig machen: Das Comeback von „Bochums Steine“! Doch wie werden seine alten Bandkollegen und der damalige Manager (André M. Hennicke) auf den Vorschlag reagieren? Kann Rainer sie überzeugen, dass es nie zu spät ist, seinen Traum zu leben? Zu verlieren hat er nichts mehr. Und wider Erwarten steht das Leben plötzlich wieder auf Rainers Seite…
Der Titel «So viel Zeit» ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, denn eigentlich hat Hauptfigur Rainer ja eben keine Zeit mehr. Dass ihn die fortschreitende Krebserkrankung, durch die er nur noch wenige Wochen zu leben hat, dazu animiert, auf seine letzten Tage noch einmal das Leben in vollen Zügen zu genießen, ist Tragikomödien-Usus; weniger gewöhnlich und vorhersehbar ist dagegen von Anfang an der Spagat, den die Drehbuchautoren Stefan Kolditz («Paula»), Malte Welding («SMS für Dich» und Thomas Sieben («Verrückt nach Fixi») bei ihrer Charakterisierung wählen. Mit Rainer kreiert er eine ambivalente Figur, die einerseits Zeit mit ihrem Sohn verbringen, andererseits aber auch endlich wieder mit seinen alten Rockerkollegen touren will. Diese moralische Ambivalenz fordert durchaus auch das Publikum heraus: Dieser Rainer ist nämlich ein ziemlicher Egoist, sodass es zu jedem Zeitpunkt nachzuvollziehen ist, dass sich seine Frau und Mutter seines Sohnes (Dorkas Kiefer) einst von ihm trennte.
Gleichzeitig agiert er in den Momenten mit seinem Kind stets aufopferungsvoll, sodass man nach Rainers gutem Kern nicht lange suchen muss. Und letztlich ist es vor allem die emotionale Ausnahmesituation, in der er sich befindet, die ihn zur Heilung alter Wunden animiert und ihn an das zurückdenken lässt, was er früher geliebt hat und heute nicht mehr tut. Dazu gehört, neben der gemeinsamen Zeit mit seinem Sohn, eben auch die Zeit mit seiner Band "Bochums Steine“.
Ein starker Cast, eine beliebige Handlung, ein sympathisches Ergebnis
Dass dieser Rainer trotzdem zu jedem Zeitpunkt ein Sympathieträger ist, liegt in erster Linie an Jan Josef Liefers («Das Pubertier»), der dem Publikum das emotionale Hin-und-her-gerissen-sein glaubhaft näherbringt. Doch nicht nur Liefers performt starkt. Es ist das gesamte Ensemble, das nicht nur durch seine Gegensätzlichkeit und die lebhafte Chemie untereinander besticht, sondern vor allem durch das Casting an sich. Neben Liefers bilden Jürgen Vogel («Der Mann aus dem Eis»), Armin Rohde («Erlösung»), Matthias Bundschuh («Wir sind die Neuen») und Richy Müller («Die schwarzen Brüder») setzen sich „Bochums Steine“ aus fünf bemerkenswerten Charaktertypen zusammen, mit deren authentischer Interaktion der Film steht und fällt. Doch nicht nur die Band brilliert.
In prägnanten Nebenrollen sind unter anderem Dorkas Kiefer («Toilet Stories»), Laura Tonke («Zwei im falschen Film»), Alwara Höfels («Meine teuflisch gute Freundin»), André M. Hennicke («Hot Dog») und Jeanette Hain («Klassentreffen 1.0») zu sehen, die die auch diesmal massig vertretenden Ruhrpott-Typen mit Leben füllen und dafür sorgen, dass der durch seinen bisweilen ein wenig beliebigen Plot schwächelnde Film trotzdem zu jedem Zeitpunkt sympathisch bleibt.
Rein auf die Story bezogen macht «So viel Zeit» dann jedoch leider nicht allzu viel anders, als artverwandte Tragikomödien. Der Ablauf der Geschichte ist mit all ihren Höhen und Tiefen sowie den verschiedenen Stationen, die es auf so einer Reise abzuklappern gilt, von Anfang an weitestgehend vorgegeben: Rainer rekrutiert seine ehemaligen Freunde, es ist viel Zeit, um sich endlich auszusprechen, ganz nebenbei kittet er auch noch die Beziehung zu Frau und Kind und so lassen sich am Ende doch sämtliche Belange irgendwie unter einen Hut bringen. Besonders irritierend wirkt das Ende, das im vollständigen Kontrast zur bis dato vorherrschenden Glaubwürdigkeit steht; hier wollten die Verantwortlichen einfach zu viel Happy End für einen zu kurzen Zeitraum. Immerhin bietet sich so noch einmal die Gelegenheit, in den Genuss der Musik zu kommen. Denn die hat nicht nur ordentlich Ohrwurmpotenzial, sondern passt auch wie die Faust aufs Auge zu den Typen, die sie performen. Ein stilechter Gastauftritt der „Scorpions“ ist da Formsache.
Fazit
«So viel Zeit» ist eine sympathische Tragikomödie über ein paar Freunde, die sich nach langer Zeit noch einmal zum Musikmachen zusammenfinden. Das verläuft hin und wieder in formelhaften Bahnen, doch die toll aufgelegten und unkonventionell zusammengecasteten Hauptdarsteller können das die meiste Zeit über ausgleichen.
«So viel Zeit» ist ab dem 22. November in den deutschen Kinos zu sehen.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel