Max Conze hat mit seiner Kritik am klassischen Messverfahren der Einschaltquoten ein großes mediales Echo hervorgerufen. Warum ihm grundsätzlich zuzustimmen ist, es aktuell trotzdem noch kein Vorbeikommen an den Werten gibt und wo die AGF nun dringend endlich liefern muss.
Neben "Ich schau ja eigentlich gar kein Fernsehen mehr" gehört die Kritik an der Quotenmessung in unserer Zeit zu den omnipräsentesten Äußerungen, denen man im Alltag als Medienredakteur mit Schwerpunkt Fernsehen so begegnet. Ob es die seit Jahrzehnten gängige Praxis ist, ein paar tausend intransparent auserkorene Haushalte das Sehverhalten der gesamten Bundesrepublik abbilden zu lassen oder der in der jüngeren Vergangenheit zunehmende Unmut über eine unzureichende Abbildung non-linearer Konsumformen: Die AGF Videoforschung muss sich mit mal berechtigterer, mal polemischerer Kritik auseinandersetzen und gegen einen Relevanzverlust ihrer Daten in Zeiten immer größer werdender Medienvielfalt ankämpfen.
Als jedoch in der vergangenen Woche mit Max Conze niemand Geringeres als der Vorstandsvorsitzende von ProSiebenSat.1 (einer der beiden größten Privatsender-Gruppen Deutschlands) die aktuelle Form der Quotenmessung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als "antiquiert" bezeichnet hatte, konnte man schon von einer neuen Qualität der Kritik sprechen. Anders als die Öffentlich-Rechtlichen ist ProSiebenSat.1 von der Quote als Basis der TV-Werbung maßgeblich abhängig, das System Privatsender fußt klassischerweise auf diesen Daten, die klassische und ebenfalls oft kritisierte "werberelevante Zielgruppe" ist sogar eine Erfindung des Privatfernsehens. Was kritisiert Conze genau, womit hat er (Un-)Recht und wie müsste eine zeitgemäße Quotenmessung idealerweise aussehen, damit sie auch den Anforderungen des 21. Jahrhunderts noch Rechnung trägt?
Gesamtheitliche Nutzungsabbildung fehlt - ist aber schwer zu realisieren
Laut Conze habe sich das System vornehmlich dahingehend "überlebt", dass zwar die lineare Quote sowie seit einigen Jahren auch die digitale Verbreitung in den Mediatheken gemessen werde, das eigentlich Wichtigste aber fehle: Die Zahl, "wie viele Menschen insgesamt diese Inhalte schauen - und nicht, über welchen Kanal sie das tun". Dieser Aussage mag man kaum widersprechen, ist aber auch denkbar leicht dahingesagt, wenn man nicht für die Umsetzung der gesamten Abbildung verantwortlich zeichnet. Und bei etwas genauerem Hinsehen fallen einem recht schnell so einige Probleme ein, dieses gesamtheitliche Abbilden der Nutzungszahlen zu realisieren.
Da wäre an allererster Stelle das Problem zu nennen, dass Medienvertreter und letztlich auch Programmverantwortliche gerne so fix wie möglich handfeste Zahlen vorzuweisen haben, wie eine Sendung denn nun gelaufen ist. Tagesaktuelle Daten zum Konsum der Inhalte liegen zum aktuellen Stand jedoch nur für die lineare Nutzung vor, schon die Werte aus der Mediathek sind erst Wochen nach der Erstveröffentlichung auf der Website der AGF abrufbar. Und das ist ein Problem, wie wir beispielhaft an der neuen Elton-Show
«Alle gegen Einen» darlegen möchten: Die Samstagabend-Show wurde live produziert, dürfte nicht gerade preisgünstig gewesen sein und soll auch die kommenden drei Samstagabende bestücken.
Wenn hier keinerlei Daten mehr tagesaktuell, sondern erst Wochen später vorliegen, wüsste ProSieben erst Wochen nach der Premiere mit Gewissheit, ob die Sendung das Publikum erreicht hat oder völlig an dessen Geschmack vorbeigesendet hat. Bis dahin tappen Programmverantwortliche, die im schlimmsten Fall die Reißleine ziehen müssten, ebenso im Dunkeln wie Elton, Bielendorfer sowie deren Team hinter der Kamera, die somit kaum die Möglichkeit hätten, den Ablauf des Formats zu optimieren. Immerhin liegen den Senderverantwortlichen und Redakteuren von Fernsehformaten nicht nur die wenigen Werte vor, über die klassischerweise tagesaktuell berichtet wird, sondern auch diverse wertvolle Entwicklungskurven innerhalb der Ausstrahlung. Das kann selbstredend problematische Implikationen mit sich bringen, wenn man jedem noch so kleinen Ausschlag nach oben treudoof hinterherläuft, kann aber insbesondere eine Livesendung auch optimieren, wenn man die richtigen Schlüsse aus den erhobenen Werten zieht.
Zugleich beißt sich dieses Streben nach Tagesaktualität aber schlichtweg mit der Nutzungspraxis vieler Menschen in der Gegenwart: Kaum jemand will sich heutzutage noch vorschreiben lassen, wann er was zu gucken hat. Bei einer Liveshow mag der daraus resultierende Effekt auf die Aussagekraft der Werte noch vergleichsweise überschaubar sein, insbesondere bei Serien und Spielfilmen allerdings dramatisch - weshalb sich insbesondere Serien mit fortlaufender Handlung längst zu Quotenkillern im linearen Fernsehen entwickelt haben. Zugleich wollen aber nicht nur Journalisten und Senderchefs, sondern auch viele Fans kaum darauf verzichten, zeitnah zu erfahren, ob ihr Liebling denn auch erfolgreich lief - oder hätte Sie jetzt noch groß interessiert, wie die Auftaktfolgen von «Babylon Berlin» Ende September im Ersten oder der Bundesliga-Spieltag vor drei Wochen angekommen sind?
Vielfalt der digitalen Verbreitung kaum abzubilden
Zudem ist Conzes Aussage, es würde neben der linearen Nutzung auch die digitale Verbreitung gemessen, nur zum Teil korrekt. ProSiebenSat.1 bekommt dies bei den
Streaming-Hitlisten am eigenen Leib zu spüren, denn die AGF hat schlichtweg nicht die Möglichkeit, die Maxdome-Nutzung abzubilden. Erst seit wenigen Monaten können die Werte der iOs- und Android-Apps ausgewiesen werden, beim ZDF fehlt etwa der tägliche Livestream. Was ist mit Zattoo? Was ist mit YouTube, wo viele Inhalte ebenfalls geschaut werden und nicht selten von den Verantwortlichen der Sender und Sendungen selbst eingestellt werden? Was ist mit der Nutzung von Recordern, bei denen das entsprechende Programm später als drei Tage nach der Ausstrahlung konsumiert wird? Da fallen einem recht schnell so einige Optionen ein, die real und völlig legal genutzt werden, ohne dass diese Werte in irgendeine Quote inkludiert werden.
Und über Netflix, Amazon und Co. haben wir bislang noch überhaupt nicht gesprochen. Diese Streamingdienste halten ihre Nutzungszahlen willentlich komplett unter Verschluss und geben bewusst nur bruchstückhaft Informationen heraus, die ihnen in den Kram passen: Erfolgreiche Starts, Hitlisten über die erfolgreichsten Angebote ihrer Plattformen, aber keine Ladenhüter, die kaum jemanden erreichen oder Neustarts, die gefloppt sind. Der Vorteil dieser Dienste ist, dass sie gar keine AGF benötigen, die für sie die Daten erhebt. Der Nachteil dieses Vorgehens für die Allgemeinheit ist offensichtlich: Meldungen über Netflix-Abrufzahlen lesen sich gezwungenermaßen fast wie Pressemitteilungen, bei denen ein Erfolg den nächsten jagt und Flops geflissentlich verschwiegen werden. Nicht zuletzt aufgrund dieser Intransparenz sollte man aller Kritik zum Trotz gerade als Journalist und Zuschauer insofern glücklich über die klassische Einschaltquoten sein, dass sie schonungslos auch Flops abbildet - leider in relevantem Umfang fast nur lineare Flops, deren Narrativ sich kaum einmal merklich ändert, wenn sie auf anderen Verbreitungswegen doch noch sehr erfolgreich sind.
Fazit: Die Einschaltquote ist schlecht, die bisherigen "Alternativen" sind schlechter
Auch die Musikcharts machen Probleme
Nicht nur die Erhebung der TV-Quoten, sondern auch jene der Musikcharts gestaltet sich zunehmend schwierig: Im Spotify-Zeitalter gelten inzwischen auch Premium-Streams (von monatlich zahlenden Nutzern) als chartrelevant, sofern ein Song länger als 30 Sekunden gestreamt wird. Welch abenteuerliche Implikationen das für die wöchentliche Hitliste haben kann, zeigte sich erst vor zwei Wochen in dramatischer Deutlichkeit, als 13 der 17 Top-Ränge an das Rapper-Duo Raf Camora und Bonez MC gingen, weil diese auf den Streaming-Plattformen durchschlagende Erfolge vorzuweisen haben - bei vergleichsweise überschaubaren Platten-Verkäufen und Downloads.Wenn man die vorherigen Kapitel, bei denen man längst keine Garantie dafür übernehmen kann, sämtliche Problematiken der Vielfalt unseres Zeitalters benannt zu haben, zusammenfasst, fühlt man sich unweigerlich an ein Zitat Winston Churchills erinnert: "Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen". Bezogen auf die Einschaltquote kann man kaum negieren, dass sie wahrscheinlich noch nie die wirklich genauen Zuschauerzahlen und Marktanteile von TV-Sendungen abgebildet hat, sich im digitalen Zeitalter aber wohl immer weiter von der Realität entfernt. Die lineare Quote bildet lediglich einen Teil des Konsums ab, die Erhebung der Werte zur digitalen Verbreitung dauern zu lange und umfassen zu wenige Fische, die im großen Pool der Nutzungsoptionen 2018 herumschwimmen, viele dieser Fische verhungern gar komplett, da die AGF sie nicht erreicht. Das muss alles besser werden, schneller werden, genauer werden, da mag man Conze und all den anderen Kritikern kaum widersprechen und muss sich auch als Medienjournalist stetig hinterfragen, inwiefern man Gefahr läuft, einem numerischen Fantasiegebilde hinterher zu laufen, das seine Relevanz längst eingebüßt hat.
Zugleich sind Systemkritik und eine Forderung nach einer ganzheitlichen Abbildung aller Nutzungsformen sehr leicht formuliert, wenn man diese nicht umsetzen muss. Für ein Messinstrument die technischen Voraussetzungen zu schaffen, das valide Werte sämtlicher Verbreitungswege hervorbringt und das bestenfalls auch noch zeitnah leistet, ohne jedoch den Konsum zu unterschlagen, der recht deutlich nach der Erstveröffentlichung stattfindet, gleicht der Quadratur des Kreises. Und bis dato hat noch niemand ein Messverfahren entwickelt, das auch nur annähernd mit dem bestehenden konkurrieren kann, weshalb die Einschaltquote immer noch als wichtigste Währung für Erfolg und Misserfolg in der TV-Branche gilt. Jahr für Jahr häufen sich die Argumente, weshalb man diese Währung für überholt halten kann, doch von ernst zu nehmenden Alternativen ist bis dato wenig zu sehen.
Und so sehr Streaming-Dienste auch die Vielfalt auf dem Markt der Bewegtbild-Inhalte gefördert haben und so nachhaltig sie das Konsumverhalten vieler Nutzer zu ändern scheinen, so unattraktiv gestaltet sich die Berichterstattung über diese Dienste fernab von Umsatz- und Abonnentenzahlen. Wer also das Prinzip Einschaltquote mit freier Berichterstattung über Tops wie Flops gleichermaßen schätzt und keinen Haus- und Hof-Journalismus lesen möchte, bei dem eine Hitlisten-Jubelarie auf die nächste folgt, der sollte hoffen, dass es der AGF (oder einem alternativen Akteur) gelingt, die Relevanz des Grundprinzips Einschaltquote aufrecht zu erhalten, da es ungleich transparenter ist als das Vorgehen etwa der Streamingdienste - die übrigens mit ihrer Verweigerungshaltung auch dazu beitragen, dass valide Forschung über das Nutzungsverhalten von Zuschauern immer schwieriger zu realisieren ist. Das alles sollte man bedenken, wenn man dazu geneigt ist, beim Abgesang auf die Einschaltquote einzustimmen.
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