Wie konzipiert man einen zehnstündigen Horrorfilm, der gleichzeitig spannend bleibt und intelligent? «Spuk in Hill House» vollbringt dieses Kunststück durch einen Genre-Mix, der so im Seriengeschäft noch nicht zu sehen war.
Cast & Crew «Spuk in Hill House»
- basiert lose auf dem gleichnamigen Roman von Shirley Jackson
- Darsteller: Michiel Huisman, Carla Gugino, Henry Thomas, Elizabeth Reaser, Oliver Jackson-Cohen, Kate Siegel u.a.
- Regie: Mike Flanagan
- Ausf. Produzenten: Mike Flanagan, Trevor Macy, Darryl Frank u.a.
- Produktion: FlanaganFilm, Amblin TV, Paramount TV für Netflix
- Episoden: 10 in S1 (45-70 Min.)
Horrorfilme tendieren oft dazu, von ihrem Schock zu leben, von ihrer Spannung durch den Grusel. Dass dabei dann oft keine gute oder gar clevere Story herauskommt, kann so bei einer typischen Spieldauer von 90 oder 120 Minuten schnell vergessen werden. Im Serienformat funktioniert ein solches Versteckspiel nicht: Hier kann der Horror nicht allein bei der Stange halten, sind doch – im Fall von «Spuk in Hill House» – ganze 600 Minuten zu füllen und damit ungleich mehr als beim klassischen Horrorfilm. Viele artverwandte Serien wie «Bates Motel», «Hannibal» oder «American Horror Story» lösen dieses Problem, indem sie dem Horror mehr oder weniger ganz abschwören und sich gänzlich auf den Drama-Aspekt konzentrieren. «Spuk in Hill House» aber fühlt sich tatsächlich an wie ein zehnstündiger Horrorfilm. So etwas gab es bisher noch nicht.
Der Genre-Mix verbindet Horror und Familien-Drama auf intelligente Weise. Er erzählt uns von der Familie Crain, die 1992 in ein altes leerstehendes Anwesen einziehen, das sogenannte Hill House. Erst finden die Eltern Hugh und Oliva mit ihren fünf Kindern das persönliche Glück in dem riesigen Haus. Doch bald geschehen unerklärliche Dinge: Hunde bellen, obwohl es keine gibt. Wände erbeben ohne erkennbaren Grund. Und irgendwann erzählen die Kinder ihren Eltern von einer
bent-neck lady, die sie nachts am Bett aufsucht. Doch bis alle erkennen, dass das Haus tatsächlich einem Fluch unterliegt, hat der Spuk schon seinen Tribut gefordert. 16 Jahre später, im Jahr 2018, müssen die mittlerweile erwachsenen Familienmitglieder wieder zusammenkommen, als sie der alte Fluch als dem Hill House einholt.
Zahlreiche Zeitebenen in «Haunting of Hill House» erzählen die Geschichte der Crains, nicht nur in den Jahren 1992 und 2018, sondern auch dazwischen. Jeder Einzelne hat seine eigene Art und Weise, mit den schrecklichen damaligen Ereignissen umzugehen: Einer der Söhne wird Horror-Schriftsteller, ein anderer wird drogenabhängig, eine Tochter betreibt ein Bestattungsunternehmen, eine wird Kinderpsychologin. In den zahlreichen Zeit- und Erzählebenen entfaltet sich ein komplexes Konstrukt gestörter Charaktere, die durch die gemeinsamen tragischen Erinnerungen aus 1992 nicht zusammengeschweißt wurden, sondern eher auseinandergetrieben.
«Spuk in Hill House» bei Netflix: Eine emotionale Achterbahnfahrt
Auf den ersten Blick überfordert die scheinbar unlösbare Aufgabe, sieben (!) Hauptfiguren eine eigene, interessante Story zu geben – und das gleich auf zahlreichen Zeitebenen, als Kinder, als junge Erwachsene, als ältere Erwachsene. Viele Showrunner wären an dieser Aufgabe verzweifelt, doch für den Horrorfilm-Regisseur Mike Flanagan («Oujia», «Das Spiel») eine willkommene Herausforderung, die er bravourös meistert. Wie ein Puzzle entfaltet sich die vielschichtige Story Stück für Stück. Sie kann überfordern, wenn man nicht konzentriert hinschaut – ja, «Spuk in Hill House» ist eines der komplexesten Serienformate der letzten Jahre, dafür aber auch eines der interessantesten. Jede einzelne Figur hat ihre spannende Geschichte. Gleichzeitig zeigt der regelmäßige Horror auf visueller und – später vor allem – auf psychologischer Ebene, warum die Familienmitglieder so geworden sind, wie sie sind. Der Zuschauer wird so auf einer emotionalen Achterbahnfahrt mitgerissen, die zwischen Spuk, Anspannung und Grusel auf der einen Seite sowie Mitgefühl, Freude und Trauer auf der anderen Seite changiert.
Auch regietechnisch setzt die Netflix-Serie höchste Standards. Oftmals verbinden Montagen die verschiedenen Zeitebenen auf intelligente Art und Weise, beispielsweise wenn sich eine Tür in der einen Zeitebene öffnet und nach einem Schnitt jemand durch dieselbe Tür in der neuen Zeitebene tritt. Die verschiedenen Ebenen sind durch Filter visuell voneinander unterscheidbar, gleichzeitig durch jeweils typische Kameraeinstellungen. Eine Episode spielt mit extrem langen Einstellungen von rund 20 Minuten Dauer – und vermittelt damit eine für das Serienfernsehen ungesehene Emotionalität. Dem Grauen, das die Crains im Hill House ausgesetzt sind, vermittelt die Regie gekonnt durch weite Kameraeinstellungen: Die Familie wirkt im riesigen Anwesen verloren, ja sie scheint ihm ausgeliefert. Dabei sind alle Schauspieler perfekt gecastet – selbst die zahlreichen Kinderdarsteller.
600 Minuten Horror also, aber gleichzeitig 600 Minuten hochemotionales Familien-Drama. Was «Spuk in Hill House» schafft, ist nicht weniger als überragend. Das Konzept und die Komplexität der Erzählung(en) gehören zu den größten Herausforderungen, die in den vergangenen Jahren in Serie gingen – für die Macher, aber auch für die Zuschauer.
«Spuk in Hill House» ist ab sofort bei Netflix.
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