Schon zwei Staffeln zählt eine Dramedy, die sich um einen autistischen Teenager und seine Familie dreht. Was das Netflix-Original abhebt, ist, dass es sich vom Thema Autismus mittlerweile emanzipiert hat.
Der 18-jährige Sam Gardner aus Connecticut liebt Pinguine. Generell ist Biologie die große Leidenschaft des hochintelligenten jungen Manns, der darüber hinaus auch wahnsinnig gut zeichnen kann. Zusammen mit Vater Doug, Mutter Elsa und Schwester Casey führt Sam scheinbar das typisch amerikanische Vorstadtleben. Doch wie jeder andere Heranwachsende ist Sam auch nicht. Er ist «Atypical», denn er ist Autist. Soziale Situationen bereiten ihm Angst, unangenehme Geräusche können bei ihm sogar Angstzustände verursachen. Um seinen Alltag dennoch möglichst souverän bestreiten zu können, flüchtet sich Sam in einstudierte Rituale, die ihm Halt geben.
Das ist Netflix‘ «Atypical», von dem womöglich selbst eingefleischte Serienfans noch nichts gehört haben werden. Der Streaming-Dienst gab sich im Rahmen seines Originals auch nicht die größte Mühe, es zum Start am 11. August 2017 breit zu bewerben. Nutzern, deren Präferenzen zum Neustart passten, wurde die Serie Zeit ihres Erscheinens womöglich mal auf dem Startbildschirm angezeigt, ehe die Serie in die Untiefen der Netflix-Mediathek verschwand. «Atypical» ist kein aufwändig produziertes Serien-Highlight, wartet nicht mit einem Star-Cast auf und führte auch nicht zu Kontroversen, die das Format in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückten. Dennoch wurden immer mehr Netflix-Nutzer auf die mittlerweile zwei Staffeln und 18 Episoden umfassende Serie aufmerksam, bis diese im Spätsommer 2018 sogar bis auf Platz sechs der VoD-Charts aufrückte (siehe Infobox), ehe sie daraus wieder verschwand.
Das Problem: Unauthentischer Autismus
«Atypical» hatte nie das Potenzial zur Serien-Sensation, doch stellt schon seit Tag eins eine wichtige Serie dar, die in jedem Fall zu den besseren Eigenproduktionen von Netflix gehört, dessen Treffsicherheit in Sachen Qualität in den vergangenen Jahren deutlich nachließ. Was «Atypical» von anderen Familen-Dramedys abhebt, ist offensichtlich das Thema Autismus. Das alleine qualifiziert eine Serie natürlich nicht automatisch zum pädagogisch wertvollen Must-See, denn mittlerweile wurde die Entwicklungsstörung in der Unterhaltungsindustrie schon vielfach verarbeitet, etwa im Filmklassiker «Rain Man» und im Serienbereich sogar brandaktuell mit dem US-Serienhit «The Good Doctor».
Bewerten Rezensenten also die Qualität von «Atypical» führt kein Weg an der Darstellung von Autismus vorbei. Gleichwohl die Serie von Robia Rashid schon in ihrer Auftaktstaffel überwiegend positive Kritiken erhielt, schieden sich gerade bei der Autismus-Thematik die Geister. Vielen Kritikern mangelte es an tatsächlich autistischen Darstellern im Format und an der stereotypen Repräsentation der autistischen Hauptfigur: weiß, hetero, hochintelligent, mit einem mangelnden Einfühlungsvermögen. Um dem vorherrschenden Bild von Autismus gerecht zu werden, traf die Figur Sam Gardner Entscheidungen, die vor allem den Comedy-Faktor in der Dramedy erhöhen sollten, die aber mit authentisch autistischen Verhaltensweisen wenig zu tun hatten. Für viele Beobachter ein vermeintlicher Schritt rückwärts in der Darstellung von Autismus.
Die Lösung: Emanzipation vom Autismus
Facts zum Format: «Atypical»
- Genre: Coming-of-Age / Dramedy
- Idee: Robia Rashid
- Darsteller: Keir Gilchrist, Jennifer Jason Leigh, Bridgette Lundy-Paine, Michael Rapaport u.w.
- Episoden: 18 (2 Staffeln)
- Laufzeit: 26-38 Minuten
- Premiere: 11. August 2017
- Veröffentlichung: Netflix
Was den nach Unterhaltung suchenden Durchschnittszuschauer womöglich kaum stört, nahm sich Macherin Rashid zu Herzen. Sie engagierte Universitäts-Dozenten und autistische Autoren als Berater für Staffel zwei und besetzte einige Rollen mit autistischen Schauspielern. Die vielleicht wichtigste Entscheidung Rashid stellt jedoch eine zunächst kontraintuitiv anmutende dar: Den Autismus des Protagonisten mehr in den Hintergrund treten zu lassen.
Der von Keir Gilchrist gespielte Sam Gardner hat noch nie den alleinigen Dreh- und Angelpunkt von «Atypical» gekennzeichnet. Wirklich sehenswert werden die dramatischen Elemente des Formats erst, wenn darauf Bezug genommen wird, wie Sams Autismus das Familienleben beeinflusst. Vater Doug (Michael Rapaport) hat noch immer Probleme im Umgang mit seinem Sohn und hat Schwierigkeiten, einen Draht zu seinem Sprössling zu finden. Seit dessen Geburt dreht sich derweil alles in Mutter Elsas (Jennifer Jason Leigh) Leben um die Fürsorge gegenüber Sam. Darunter leidet nicht nur ihre persönliche Entfaltung und das Eheleben der Eltern, es fällt ihr auch schwer ihren mittlerweile erwachsenen Sohn Verantwortung übernehmen zu lassen. Schwester Casey (Bridgette Lundy-Paine) fühlt sich seit jeher vernachlässigt. Ihre Interessen musste sie schon immer hintanstellen, was des Öfteren zu großer Frustration bei der Teenagerin führt.
Berührend, charmant, smart
So entwickelte sich «Atypical» im Laufe der ersten zwei Staffeln von einer Dramedy ÜBER einen autistischen jungen Mann zu einer Dramedy MIT einem autistischen jungen Mann, womit die Serie in ihrer seit Kurzem verfügbaren Folgestaffel einen wesentlich reiferen Eindruck macht. Nichtsdestotrotz schafft es «Atypical» auch bildlich auf sehr kreative Weise, die Probleme darzustellen, die bei autistischen Menschen im Alltag auftreten. Wenn Sam von diversen Stimuli überwältigt wird, verwendet die Serie Zeitlupen-Aufnahmen sprechender Münder oder flackernde helle Lichter. Die Entwicklung seiner Figur zu verfolgen, die in Staffel eins noch nach Liebe und Akzeptanz suchte, diese letztlich fand und in Staffel zwei nun immer unabhängiger wird, berührt Zuschauer mehr als es ein handelsübliches Familien-Drama vielleicht könnte. Auch weil Autisten in Film und Fernsehen häufig etwas viel Menschlicheres an sich haben als die üblichen Charaktere. Sie verbiegen sich nicht, um den Regeln sozialen Umgangs zu entsprechen. Sie sind sie selbst und lassen ihren Gefühlen freien Lauf, sprechen aus, was sie denken.
Nach der Coming-of-Age-Geschichte in Staffel eins spielen nun auch andere narrative Entwicklungen eine wichtigere Rolle. Etwa die familiären Probleme, die ausnahmsweise nicht durch Sam entstehen, sondern durch die Affäre der Mutter, deren Fehltritt ihre Beziehung zu Ehemann und Tochter nachhaltig erschüttert. Letztere wechselt dank eines Sportstipendiums auf eine Elite-Schule und muss ihr altes Leben samt Freund mit den Regeln der gut betuchten neuen Freunde in Einklang bringen. Alle Charaktere müssen mit den Entwicklungen wachsen. Klingt nicht besonders einfallsreich, doch die Darsteller und ihre Figuren versprühen einen Charme, der «Atypical» zu einer der überraschendsten Familien-Dramedys der vergangenen Jahre macht.
Letztlich beobachtet sich der Wandel der Serie überaus interessant, weil sie vermeintlich ungewollt die Entwicklung ihrer Hauptfigur spiegelt. So wie sich Sam von seiner Familie und teilweise auch von seiner Entwicklungsstörung emanzipiert, macht sich «Atypical» ebenfalls immer freier von seinem Autismus. Letztlich findet sich im Netflix-Original rückblickend ein Mix aus Highschool-Serie und Familien-Dramedy, der smart und charmant umgesetzt ist, deren Autismus seiner Hauptfigur aber bloß Teil der Prämisse ist, der fast schon als inhaltlicher Bonus dient. In Staffel zwei fand die Serie neue Wege zu inspirieren und zu überraschen. «Atypical» ist keine Autismus-Serie – und geht deshalb umso reifer mit der Thematik um.
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