Eine spektakuläre Anekdote deutsch-deutscher Geschichte transportiert Michael 'Bully' Herbig vom Komödienfach ins Spannungskino.
Filmfacts: «Ballon»
- Regie und Produktion: Michael Herbig
- Drehbuch: Kit Hopkins, Thilo Röscheisen
- Darsteller: Friedrich Mücke, Karoline Schuch, David Kross, Antje Traue, Alicia von Rittberg, Thomas Kretschmann, Jonas Holdenrieder, Tilman Döbler
- Musik: Ralf Wengenmayr
- Kamera: Torsten Breuer
- Schnitt: Alexander Dittner
- Laufzeit: 125 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Michael 'Bully' Herbig ist einer der einträglichsten Mainstream-Regisseure Deutschlands. Mit «Erkan & Stefan» lockte er im Jahr 2000 immerhin 1,2 Millionen Menschen in die Kinos. Es folgten die Megahits «Der Schuh des Manitu» (11,7 Mio.) und «(T)Raumschiff Surprise – Periode 1» (9,2 Mio.), der Animationserfolg «Lissi und der wilde Kaiser» (2,3 Mio.) sowie der Abenteuer-Blockbuster «Wickie und die starken Männer» (4,9 Mio.). Dieses Jahrzehnt wiederum lieferte Herbig mit der übernatürlichen Komödie «Buddy» seinen bislang am wenigsten gefragten Film ab (0,7 Millionen Ticketverkäufe), aber auch seinen Achtungserfolg «Bullyparade – Der Film» (1,9 Mio.). Doch was wohl wichtiger ist: Herbig ist nicht nur erfolgreich, sondern auch überaus fähig.
Wie es nun einmal so ist: Das Komödienfach wird von einigen Filmfans und Mitgliedern des Kritikergeschäfts nicht ausreichend gewürdigt. Trotzdem ist nicht daran zu rütteln, dass «(T)Raumschiff Surprise – Periode 1» und «Wickie und die starken Männer» zu den raren deutschen Filmen gehören, die nicht nur krampfhaft versuchen, wie starke US-Blockbusterware auszusehen, sondern denen es auch mühelos gelingt (und das zu einem Bruchteil der Kosten). «Der Schuh des Manitu» derweil ist auf inszenatorischer Ebene deutlich kontrollierter, als man es bei einem Blödelwestern erwarten dürfte. Und auch «Buddy», Herbigs Versuch, sich dem deutschen Mainstreamkino-Zeitgeist anzupassen und sich an der Farbpalette von Schweiger und Schweighöfer zu bedienen, ist (manchem dramaturgischen Lapsus zum Trotz) mit inszenatorischer Raffinesse umgesetzt.
Im Gegensatz zu einem seiner früheren Darsteller bleibt Herbig allerdings nicht in seiner tonalen Regie-Nische, sondern wechselt das Fach, ehe er betriebsblind wird. Herbig präsensentiert mit «Ballon» seinen ersten ernsten Film – und beweist: Er beherrscht Spannungskino mindestens genauso sehr wie das Komödiengenre. Herbig erzählt die fesselnde, wahre Geschichte der Familie Strelzyk und Wetzel, die um die Welt ging und 1982 unter dem Titel «Mit dem Wind nach Westen» als Disney-Film ins Kino gelang, als atemberaubenden Flucht- und Verfolgungsthriller …
Es ist der Sommer des Jahres 1979: Im thüringischen Pößneck fühlen sich die Familien Strelzyk und Wetzel eingeengt. Überall wird man mit Argusaugen beobachtet, und verdächtigt, nicht linientreu genug zu sein. Veranstaltungen wie die Jugendweihe und das Einmischen der Partei in die Berufskarrieren von Einzelpersonen erhärten diesen Eindruck nur – ganz davon zu schweigen, dass Pößneck nah an der Grenze zu West-Deutschland liegt und somit direkt an einem beständigen Tatort, wo auf Flüchtende geschossen wird. Doris und Peter Strelzyk (Karoline Schuch und Friedrich Mücke) halten es in der DDR nicht mehr aus und wollen mit ihren Kindern via Heißluftballon in den Westen übersiedeln. Eigentlich wollten ihre Freunde Petra und Günter Wetzel (Alicia von Rittberg und David Kross) sowie deren Anhang mit, doch obwohl die Wetzels tatkräftig mitgeholfen haben, kneifen sie in letzter Minute.
Die nächtliche Flucht der Strelzyks scheitert aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen – und setzt ihnen somit eine sprichwörtliche Pistole auf die Brust. Sollten die Ballonüberreste, die sie nach ihrer Bruchlandung im Wald zurücklassen mussten, zurückverfolgt werden, würde man den Familien das Leben endgültig zur Hölle machen. Also muss so schnell wie möglich ein neuer Ballon hergestellt und in die Luft gebracht werden, ehe Oberstleutnant Seidel (Thomas Kretschmann) den 'Verrätern' auf die Spur kommt …
Mit großer Souveränität bleibt Herbig in seinem Historienthriller eng bei drei Erzählpositionen. Die Hauptfiguren sind die von Karoline Schuch und Friedrich Mücke einfühlsam gespielten Strelzyks, denen noch vor dem anfänglichen Fluchtversuch anzusehen ist, wie sehr ihnen die Enge der DDR und die Angst, dass ihr Plan auffliegt, die Kehle zuschnürt. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch kommen Hektik, ihren Kindern gegenüber gespielte Besonnenheit und eine immens gestiegene, aber nur selten ausgesprochene Angst hinzu. Eine emotionale Stresssituation, die bestens begründet ist, was durch den zweiten Erzählfaden bewusst wird, auf den Herbig bewusst in hoher Frequenz zurückgreift:
Das Skript von Kit Hopkins und Thilo Röscheisen gibt den Strelzyks ihre eigene Version von Tommy Lee Jones' Samuel Gerard in «Auf der Flucht». Der von Thomas Kretschmann, der im realen Leben selber aus der DDR floh, mit großer Kaltschnäuzigkeit gespielte Oberstleutnant Seidel ist ein wahrer Bluthund, der seine Lebensaufgabe darin sieht, die Grenze und somit die DDR zu beschützen. Flüchtende, selbst wenn ihr Versuch scheiterte, sind für ihn Beute, die es zu erlegen gilt. Herbig, Hopkins, Röscheisen und Kretschmann gelingt der diffizile Drahtseilakt, Seidel als Bedrohung zu zeichnen und an ihm zwar aufzuzeigen, weshalb die DDR von so vielen Menschen als oppressiv wahrgenommen wurde, nicht aber in Klischees zu tapsen. Das detailreiche, intensiv von DDR-Flair durchzogene und aufwendig recherchierte Produktionsdesign, dem Kameramann Stephan Schuh in seinen ästhetischen Bildern hier und dort auch etwas 'Ostalgie' gestattet, dürfte da als kleines Gegengewicht zur vollauf berechtigten Ost-Systemkritik sicherlich ebenfalls geholfen haben.
Familie Wetzel, der dritte relevante Erzählstrang von «Ballon», kommt im Vergleich etwas kurz, trotzdem gelingt es Alicia von Rittberg und David Kross in ihren Szenen, den Eheleuten Persönlichkeit zu verleihen, statt sie bloß als "das andere Paar" zu zeichnen. Durch die stringente, stets glaubwürdige Charakterzeichnung holt Herbig aus seinem Suspensestoff auch wiederholt emotionale Passagen heraus – und diese menschlichen, verletzlichen Momente stärken im Gegenzug wieder die Spannungskurve, da die Figuren durch sie greifbarer werden.
Dass die Familien auch untereinander zumeist in zugespitzten "Filmdialogen" sprechen, statt in einem geerdetem Duktus, mag einerseits die Authentizität solcher Passagen zurückhalten, andererseits ist es fast schon ein Stilmittel: Herbig will aus deutscher Geschichte, ohne sie dabei glatt zu bügeln, Spannungskino auf Hollywoodniveau formen. Inklusive vieler, vieler kleiner Spannungsspitzen, die ganz nebenher auch Bände über deutsche Dorfmentalität sprechen. Etwa, wenn die Bedienung aus einem Nähladen den Behörden gegenüber erwähnt, wie verdächtig es doch sei, dass neulich ein Auto mit fremdem Kennzeichen vor dem Geschäft geparkt hat.
Auch die Musik trägt ihren Teil dazu bei, dass «Ballon» solch eine enorme Spannung entwickelt: Herbigs Stammkomponist Ralf Wengenmayr hält sich mit seiner Musik zwar über weite Teile des Films zurück, doch wann immer die Musik in den Vordergrund tritt, erklingt eine aufreibende, moderne Klanggewalt. Ähnlich zu Christopher Nolans «Dunkirk», in dem Hans Zimmer unentwegt das Ticken einer Uhr erklingen lässt, zieht sich auch in «Ballon» ein kurz getaktetes, kühles Schlagen durch den Score, der auf verzerrte Percussion, kühle Synthesizer und schneidende Streichersektionen setzt. Wenn beim ersten Versuch schon so etwas wie «Ballon» raus kommt, dann kann Herbigs nächster Thriller nicht schnell genug kommen!
Fazit: Michael 'Bully' Herbig lässt seine inszenatorischen Musikeln erstmals im Spannungskino spielen – und er zeigt auch hier große Stärke: «Ballon» ist nervenaufreibendes deutsches Kino mit Hollywood-Optik und packender Filmmusik.
«Ballon» ist ab dem 27. September 2018 in vielen deutschen Kinos zu sehen.
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