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Popcorn und Rollenwechsel: Verdaulich definiert

Was ist diegetischer Ton, wieso sollte es mich interessieren und ist «A Chorus Line» eigentlich ein Musical?

Fachwörter. Die Einen rollen mit den Augen, wenn sie sie zu hören oder zu lesen bekommen, weil sie denken, sie werden verwendet, um sich über Nichteingeweihte hinwegzusetzen. Die Anderen verwenden sie andauernd. Manchmal tatsächlich, um das eigene Ego aufzupolstern. Meistens aber, weil sie dazu da sind, komplexere Begriffe ganz genau zu benennen und so Fachgespräche zu vereinfachen. Beispiel: "Also, wenn Baby in «Baby Driver» in der ersten Actionszene im Auto cool rumtanzt, also, da läuft die Musik ja wirklich. Die Szene ist nicht einfach cool mit einem Song untermalt. Die Figur hört, was wir hören. Verstehste?" Arg ungelenke Aussage. "Die Songs in «Baby Driver» sind diegetisch" ist da kürzer und prägnanter. Solange man versteht, was gemeint ist.

Filmtheorie unterscheidet zwischen diegetischem und nicht-diegetischem Ton. Diegetischer Ton findet innerhalb der Filmwelt statt. Eine Figur, die sich den Song "Tohuwabohu" aus dem vierten «Bibi & Tina»-Film als Klingelton eingestellt hat, wird auf ihrem Handy angerufen. Mitten in einem wichtigen Businessmeeting wird diese Figur angerufen, die stressige Grundsituation wird durch das muntere Lied unterbrochen. Eine Situation mit diegetischer Musik. Wir, das Publikum, hören etwas, das alle Figuren in dieser Szene hören. Es ist ein klanglich realer Moment.

Nicht-diegetischer Ton beziehungsweise nicht-diegetische Musik bezeichnet das Gegenteil davon. Käpt'n Jack Sparrow steht mit stolz erhobenem Haupt auf dem Mast seines untergehenden Schiffleins – untermalt vom epochalen Instrumentalstück "He's a Pirate". Selbst wenn «Fluch der Karibik»-Regisseur Gore Verbinski einst gesagt hat, dass sein Wunsch für die Filmmusik in den «Pirates of the Caribbean»-Abenteuern war, sie so einzusetzen, als würde Jack Sparrow sie sich gerade in Gedanken vorstellen: Nur wir hören sie wirklich. In der Filmwelt ist gerade nur Wind, das Rauschen des Meeres und das Knarzen einer untergehenden Schaluppe zu hören. Kein Orchester, das gerade ordentlich abgeht, indem es laute, heroische Melodien aus seinen Instrumenten quält.

Der Unterschied zwischen diesen beiden 'Klangwelten' ist nicht unerheblich. «Baby Driver» ist solch ein Kunststück von einem Actionfilm, weil Regisseur Edgar Wright es schafft, diegetische Musik so nahtlos in Verfolgungsjagden und Schießereien einzubauen, als befänden wir uns in einem galanten Musical. Einige Komödien spielen damit, ihr Publikum im Glauben zu lassen, wir hätten es mit nicht-diegetischer Musik zu tun, nur um eine absurde Situation zu zeigen, die klar macht, dass die Musik sehr wohl diegetisch ist. Mel Brooks lässt in «Silent Movie» ein Orchester in einem Bus durchs Bild fahren, um einen dramatischen Musikeinsatz in der Welt seines Films zu verorten. «Die Muppets» wiederholt dies, wenn Kermit, der Frosch, vor seinen Fans steht und der Klang eines engelsgleichen Chors zu hören ist – der gerade hinter ihm vorbeifährt.

Diese Begriffe lassen sich auch zweckentfremden, will man sich an die Definition eines Musicalfilms heranwagen. Grob gefühlt sind Musicals leicht zu erkennen: Ja, das sind halt diese Filme, wo oft gesungen und getanzt wird. In vielen Fällen reicht dieser grobe Eindruck, um Filme als Musical einzuordnen oder dem Rest des Filmkatalogs zuzuschreiben.

«Schulmädchen-Report - Was Eltern nicht für möglich halten» ist kein Musical. «Der Schuh des Manitu» hat eine Musicaleinlage, die allein macht aber nicht den ganzen Film zu einem Musical. Rob Marshalls «Nine» ist in Deutschland nahezu unbekannt – und ein Musical. Disneys «Aladdin» ist ein Zeichentrickmusical. Einfache Sache. Und «Walk the Line» … ist ein biografisches Filmdrama, in dem oft gesungen wird. Aber kein Musical, weil dieses Drama vom weltberühmten Countrysänger Johnny Cash handelt, den wir im Film nur dann singen hören, wenn er auch in der realen Welt gesungen hat. Bei Studioaufnahmen und Konzerten. In diegetischen Situationen, um den Fachbegriff leicht zu verbiegen.

Aber: Steigt man erst einmal das Kaninchenloch hinab, findet man allerhand Filme vor, die sonderbare Grenzfälle darstellen. «A Chorus Line» etwa ist ein Drama über Frauen und Männer, die für ein Bühnenmusical vorsingen. Der «Walk the Line»-Logik nach ist dies kein Musical, da die Figuren halt einer realen Weltlogik folgen und ganz diegetisch vor sich hinträllern, statt sich in diese ganz eigene Musicallogik zu begeben, in der Gesang und Tanz normale Dialoge ersetzen und Hintergrundmusik aufploppt, wo in der Filmwelt keine existiert. «A Chorus Line» hat keine nicht-diegetische Begleitmusik, wie sie etwa «Mamma Mia» aufweist. «A Chorus Line» hat diegetische Musik. Also ist es kein Musical. Oder ist es doch ein Musical? Denn die zahlreichen Lieder in dem Film, die hier geprobt werden, sind gerissenerweise so geschrieben, dass sie auch die Gefühle und Persönlichkeiten der Figuren widerspiegeln.

Ähnlich verhält es sich mit dem Klassiker «Cabaret», in dem Songs als Bühnenauftritte dargestellt werden. Diverse deutsche Komödien aus den 60ern und 70ern wiederum haben ebenfalls zahlreiche Lieder aufzuweisen, die von Figuren gesungen werden. Jedoch bringen sie nicht die Handlung voran, sagen nichts über die Figuren aus. Stattdessen wird beim Wandern geträllert oder abends in einer Kneipe, um so beliebte Schlager einzubauen oder neue Schlager beliebter Interpreten zu bewerben. Da sind wir wieder bei «Walk the Line»-Logik, nur weniger anspruchsvoll.

Und ganz sonderbar ist etwa Disneys Fernsehfilm «High School Musical», in dem Karaokeauftritte, Casting-Gesang, Proben sowie Wettbewerbsauftritte von einer Gesangs- und Tanzeinlage aufgemischt werden, in der jemand darüber singt und tanzt, nicht singen und tanzen zu wollen. Und von einer Szene, in der eine ganze Schulcafeteria darüber singt und tanzt, dass doch bitte alles normal und spießig bleiben soll. Diegetische und nicht-diegetische Gesangsszenen, wild durcheinander gewirbelt. Da soll mal jemand durchblicken!

Kurzum: Fachwörter können hilfreich sein. Aber es gibt Fälle, wo fachliche Definitionen scheitern. Ruft man zwei Dutzend Quellen auf und sucht nach einer Definition für Musicals, erhält man zwei Dutzend ähnliche, aber unterschiedliche Leitfäden. Dann ist das Bauchgefühl, so schwammig es sein mag, plötzlich doch wieder der bessere Ratgeber.
17.07.2018 12:38 Uhr Kurz-URL: qmde.de/102333
Sidney Schering

super
schade


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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Lumpenheinz
19.07.2018 12:42 Uhr 1
In Luhrmanns Gatsby wird auch ganz wunderbar damit gespielt, insbesondere mit dem Titeltrack von Lana del Rey, weswegen ich immer noch angefressen bin, dass der Song nichtmal für den Oscar nominiert wurde, obowhl ich selten ein Musikstück so genial in eine Handlung verwoben sehen habe und es sich darüber hinaus noch um ein Wahnsinns-Song handelt. Stattdessen gewinnt Happy, dass einfach nur im Hintergrund und im Abspann eines seichten Animationsfilms dudelt.



Interessant ist sowieso, dass sich Bewertung von Musik dem Mainstream viel weniger entsagt hat als besipielsweise die des Films oder der Serien. Bei der Oscarverleihung sind oft (teilweise prätentiöse) tiefgreifende künstlerische Filme nominiert, wohingegen in der Song-Kategorie die schmissigsten Lieder des letzten Kinojahres vertreten sind. Das selbe beim Grammy wo regelmäßig Bieber, Swift und Co für Best Album nominiert sind...
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