Studie eines in der Kunst oft ignorierten Subkosmos, verletzliche Liebesgeschichte und ein kleines Existenten gewidmetes Monument: Franz Rogowski und Sandra Hüller fristen ihr Dasein «In den Gängen», wo staubige Trostlosigkeit und paradiesisches Meeresrauschen nur ein kollegiales Lächeln voneinander entfernt sind.
Filmfacts: «In den Gängen»
- Regie: Thomas Stuber
- Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber
- Darsteller: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold, Michael Specht, Ramona Kunze-Libnow, Henning Peker, Steffen Scheumann, Matthias Brenner, Gerdy Zint
- Produktion: Jochen Laube, Fabian Maubach
- Kamera: Peter Matjasko
- Schnitt: Kaya Inan
- Laufzeit: 125 Min
- FSK: ab 12 Jahren
Die Kamera gleitet durch die weiten Gänge eines anonymen Großmarktes, der in seinem schummrig-kalten, künstlichen Licht an verzweigte unerkundete Gebiete erinnert. Oder an eine naturalistische, aber abstrahierte Theaterbühne, auf der sich jeden Moment ein emotionales, dramatisches und kurzweiliges Stück entfalten wird, das mit seiner kleinen Geschichte geistreich auf etwas Größeres hinweist. Beide Eindrücke sind korrekt. Wenn wenige Sekunden später eine Schar an Gabelstaplern zu Johann Strauß' "An der schönen blauen Donau" Walzer tanzt, ist dies der bei all seiner skurrilen Banalität auch so wunderschön nebensächlich-poetische Auftakt zu einer Kinogeschichte, die sich ganz einem in der Kunst oft ignorierten Subkosmos widmet.
Regisseur und Autor Thomas Stuber («Herbert») verfilmt einmal mehr eine Kurzgeschichte Clemens Meyers und nimmt dieses Mal das Leben in einem Großmarkt in der ostdeutschen Provinz unter die Lupe. Der vorbestrafte und wortkarge Christian (Franz Rogowski) bekommt dort eine Stelle, soll aber bitte seinen Tätowierungen abdecken. Der Kunde sieht sowas nämlich nicht gerne. Während seiner Probezeit nimmt ihn Bruno (Peter Kurth) von der Getränkeabteilung unter seine Fittiche. Der erklärt Christian in bestimmten, wenigen Worten und mit einem dezent entgegenkommenden, freundlichen Unterton die Gesetze in diesem Großmarkt.
Denn unter den einzelnen Abteilungen gibt es klar abgesteckte Allianzen und Feindschaften. Getränke kommen mit Süßwaren klar, andere Gebiete sind den Getränken gegenüber missgünstig eingestellt, und wie überall gibt es auch hier eine Einzelkämpfer-Fraktion. Nicht, dass im Großmarkt viel Zeit und Gelegenheit für Freundschaften oder gar Zärtlichkeiten mit den anderen Sektionen gegeben wäre. Oder den eigenen, abteilungsinternen Kollegen. Die Arbeit beginnt vor Morgengrauen und endet nach Sonnenuntergang, unentwegt muss etwas umgeräumt, weggeräumt, aufgeräumt, aufgefüllt, sortiert oder weggeworfen werden. Und wenn mit dem Gabelstapler gearbeitet wird, ist höchste Konzentration gefordert, stehen doch wertvolles Gut und sogar Leben auf dem Spiel. Kommunikation beschränkt sich bei den niedrig entlohnten Arbeitskräften, die allesamt ihr eigenes emotionales Päckchen zu tragen haben und zuweilen aus problematischen Hintergrundszenarien kommen, auf das Nötigste.
Ein mit aller Kraft aus dem Dickicht der Müdigkeit, Monotonie, sozialen Verschrecktheit und Erschöpfung freigeschlagenes, scheues Lächeln ist oft schon das Höchste der Gefühle. Mitarbeiter, die gelegentlich bei der heimlichen Raucherpause auf dem Klo parataktischen Plausch halten, sind in diesem Subkosmos so etwas wie beste Freunde. Und wer mit Lächeln einen Kaffee aus dem ranzigen Getränkeautomaten im Personalbereich spendiert, ist so etwas wie der heiße Arbeitsflirt.
Was so streng zusammengefasst trostlos klingt, füllen Stubers Darsteller dank ihrer packenden Natürlichkeit mit einer bitteren Süße. Franz Rogowski, der sich in den vergangenen Jahren zu einer einzigartigen Kraft im deutschen Schauspielgeschäft entwickelt hat, gelingt es, den zerknautschten, schüchternen und wenig belesenen Christian mit einer schlichten, unbeholfenen Freundlichkeit zu versehen. Selbst, wenn er quengelig wird, weil Süßwaren-Marion (wie befreit: Sandra Hüller) das halbversteckte Flirtspiel mit ihm an manchen Tagen nicht aufleben lässt, geht Christian jeglicher Pathos abhanden. Ebenso weiß Hüller, ihre Rolle gedämpft anzulegen.
Sie mag die quirligste, frohste bei der Arbeit sein – aber das nur, weil sie im direkten Vergleich zum restlichen Kollegium mit einer dezent unbedarften Tatkraft ans Tagwerk herangeht. Hüller fängt mit ihrem Gestus ein, was das Drehbuch sehr langsam vorbereitet: Wie die Gerüchteküche im Großmarkt besagt, packt sie im Normalfall so gerne an, weil sie im Großmarkt arbeiten
will und nicht etwa keine andere Option hat. Selbstredend kommt solch ein Wunsch nicht von ungefähr … Das Drehbuch deutet dramatische Nebenschauplätze an, lässt aber viele Fragen offen und vermeidet so die didaktische Tragik, die Milieustudien über untere soziale Schichten gemeinhin befallen. So haben die Figuren aus «In den Gängen» kaum ein Leben außerhalb des Großmarktes. Was wie eine schwerfällige, offensichtliche und wirtschaftskritische Schlussbotschaft eines Problemdramas formulieren ließe, vermittelt Thomas Stuber konzeptuell:
Nur wenige Szenen verlassen das Großmarktgelände, diese bleiben teils ohne unmittelbare Konsequenz im Raum stehen. Die Erkenntnis, dass diese Menschen nur noch fürs Arbeiten leben, kommt zwangsweise, aber beiläufig, da sie wie ein narrativ-stilistisches Element vermittelt wird. Und dieser Umstand, dass die rund zwei Filmstunden größtenteils im Markt spielt, schafft zudem der niedrigen Redseligkeit der Figuren zum Trotz Platz für einprägsame Wortwechsel.
Ob es Aufforderungen oder Bitten im marktinternen Vokabular sind, die in ihrer selbstverständlichen Eigenwilligkeit komisch klingen, obwohl es völlig authentisch ist, dass ein Kollegium eigene Abkürzungen und Spitznamen benutzt, als seien es normale Begriffe. Oder die plötzlichen, kurzen Lebensbeichten eines Bruno, den Peter Kurth so unaufgeregt herzlich spielt. Bruno erzählt einmal, als würde er vor lauter Langeweile unbedingt aus dem Trott ausbrechen wollen, angesichts seines Alltags aber keine anderen Themen als zurückliegende Lebensabschnitte haben, plötzlich von früherer Arbeit und Freude. Ist dies von der Seele geredet, dimmt das Glänzen in Kurths Augen und der Betriebstrott kehrt in seine Mundwinkel zurück. Ein in seiner Ehrlichkeit berührender, ja, schöner Moment – der durch den Zusammenhang aber so realitätsnah bedauerlich wird. Denn es gibt sie überall, die Brunos, die nun einfach nur weitermachen – Lebensziele, das hatten sie einmal.
Dadurch, dass Peter Matjaskos gräulich gefilterten Bilder nie zu nah an Leid und Antriebslosigkeit heranrücken und der Schauplatz mit seinem Jahrzehntemischmasch einen eigenen Reiz entwickelt, wirkt all dies aber nicht zu belastend. «In den Gängen» ist kein Mahnmal oder Schwangengesang unserer Marktwirtschaft. Strafende Aspekte sind vorhanden, ja. Aber in erster Linie geht es um die Kuriositäten, die den Großmarktarbeitstrott besonders machen und um die Menschen, die sich vor dieser Kulisse bewegen. Es hat was, heutige Markenverpackungen und D-Mark-Getränkeautomaten eng beieinander zu wissen und es hypnotisiert, wie Kaya Inans Schnittarbeit Routine dynamisch aneinanderreiht, während besondere Momente langsam ausplätschern – egal ob munter oder trübe. Thomas Stuber gelingt es, diese verletzliche Geschichte voller Menschen, die auf ihre eigene Weise stoisch sind, ohne Zynismus oder Elendsromantisierung umzusetzen. Und gerade dadurch kommt immer wieder bei den kleinsten, frohen Gesten oder bei den Alltag aufbrechenden Bildern eine sehr simple, aber wirksame Poesie auf.
Was «The Florida Project» in knalligen Farben für Quasi-Obdachlose nahe Walt Disney World getan hat, erschafft «In den Gängen» in fein orchestrierten, ausgewaschenen Farben für Wirtschaftsentwicklungsverlierer, die durchhalten, statt unschuldige Dritte anzufeinden. Für die eifrigen Arbeitskräfte, die Außenstehende als unsichtbar erachten. Und für den kleinen Moment des unbedarften Grinsens und Sich-ans-Meer-denken im Arbeitstrott.
«In den Gängen» ist ab dem 24. Mai 2018 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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