Am 10. Mai endete die zweite Staffel der FX-Serie «Atlanta». Unter der Überschrift „Raub-Saison“ lieferte Macher Donald Glover ein experimentelles und tiefgründiges Serien-Highlight.
Facts zu «Atlanta»
- Genre: Comedy-Drama/Surreale Comedy
- Schöpfer: Donald Glover
- Darsteller: Donald Glover, Bryan Tyree Henry, Lakeith Stanfield, Zazie Beetz u.v.m.
- Episodenzahl: 21 (2 Staffeln)
- Executive Producer: Donald Glover, Dianne McGunigle, Paul Simms & Stephen Glover
- Weltpremiere: 6. September 2016 (FX)
- Deutschlandpremiere: 21. November 2016 (FOX)
- Auszeichnungen: u.a. einen Golden Globe in der Kategorie "Beste Serie - Komödie/Musical"
Donald Glover ist ein sprudelnder Quell kreativer Energie. Davon überzeugte der Künstler die breite Öffentlichkeit gerade erst im Rahmen des am 5. Mai erschienenen Musikvideos „This is America“ unter seinem Künstlernamen Childish Gambino. Bis zum 11. Mai sammelte der Clip 72 Millionen Aufrufe und wird derzeit im Feuilleton als eines der besten Musikvideos aller Zeiten gepriesen. Weil Gambino darin die aktuelle Seelenlage der USA offenlegt, in dem durch Waffen- und Polizeigewalt furchtbare Dinge geschehen, die im nächsten Moment durch die Unterhaltungsindustrie schon wieder in Vergessenheit geraten. Glover beweist ein unvergleichliches Gefühl für die wirklichen Zustände einer Gesellschaft, die hinter der Glitzer-Fassade brodeln. Zuschauer von «Atlanta» wissen das schon länger, dort kommentiert fast jede Folge doppelbödig einen Ausschnitt der brutalen US-Wirklichkeit.
Dass «Atlanta» wirklich einen Einfluss auf diese Wirklichkeit hat oder die Kraft, etwas zu verändern, darf bezweifelt werden. Die Popularität der Serie spielt sich bislang vor allem in den Medien ab, wo Rezensenten auf einschlägigen Portalen häufig nach jeder Folge die Geschehnisse rekapitulieren und Analysen vornehmen, was Glover, der im Format den Alleingänger Earnest „Earn“ Marks spielt, nun wieder aussagen wollte. Der ausbleibende Mega-Hype resultiert jedoch aus mehreren Aspekten. Zum einen läuft «Atlanta» auf dem eher kleinen Kabelsender FX, gleichwohl sich dieser schon ein ums andere Mal durch echte Serien-Perlen wie beispielsweise «Fargo» verdient machte. Zum anderen erzählt «Atlanta» aus einer sehr afroamerikanischen Perspektive über die Lebensrealität in der titelgebenden Lokal-HipHop-Hochburg «Atlanta» in Georgia. Das schränkt die Zielgruppe massiv ein.
Raub ist in den USA allgegenwärtg
Dennoch wurde schon die am 6. September 2016 erschienene erste Staffel von Kritikern hochgelobt und die zweite Season, die am 1. März bei FX an den Start ging umso heißer erwartet. Darin versucht Earn weiter notdürftig den Erfolg seines musikschaffenden Cousins Alfred „Paper Boi“ Miles als Rapper zu vermarkten. Letzterer muss lernen, mit seinem neugewonnenen Ruhm in der lokalen Szene umzugehen, mit den Vorzügen und Schattenseiten. Mitbewohner Darius philosophiert weiter vor sich hin. Außerdem wäre da noch Vanessa, die Mutter von Earns Tochter. Das Elternpaar wider Willen arbeitet weiter an seiner komplexen Beziehung, um ihrem Kind doch eine einigermaßen normale Kindheit zu bescheren.
Wer glaubt, sich unter dieser Zusammenfassung schon in etwa den Verlauf der elf Episoden umfassenden Staffel vorstellen zu können, die hierzulande seit dem 8. März auf dem FOX-Channel im Pay-TV läuft, der irrt gewaltig. Vermutlich sind damit nicht einmal zehn Prozent des eigentlichen Inhalts abgebildet, den Glover in dieser Staffel vermitteln will. Zuschauer tun überhaupt gut daran, komplett unvoreingenommen an neue Ausgaben heranzugehen, denn wahlweise erzeugen diese Überraschungen, Begeisterung, Verwirrung oder regelrechte Angstzustände. Nie entwickelt sich eine Episode so, wie man es sich vorgestellt hat, immer verfügen die Folgen aber über eine mindestens so hohe Qualität wie erwartet.
„Robbin‘ Season“ lautet die Überschrift der zweiten Staffel, auf Deutsch etwa „Raub-Saison“, weil die Staffel kurz vor den Ferien ansetzt, wo die Anzahl der Raubüberfälle stets exponentiell steigt. Die erste Sequenz der neuen Staffel bildet dann sogleich einen furchterregenden, aber irgendwie auch komischen Überfall auf ein Fast-Food-Restaurant ab, der ein bisschen an 90er-Jahre-Streifen erinnert. Doch Raub, „ Robbin‘“, bedeutet für «Atlanta» mehr als eine Straftat und erzeugt mehr als bloß Gewalt, auch wenn diese die ganze Staffel über präsent bleibt.
«Atlanta» stellt die Opfer in den Vordergrund
Die zehn neuen Ausgaben der zweiten Staffel, die am 10. Mai endete, handelten von den unterschiedlichsten Arten, wie Menschen eine Sache beraubt werden können: Ihrer Würde, ihrem Geld, ihrer Eigenständigkeit, ihrer Sicherheit und vielem mehr. Obwohl eigentlich Earn als Protagonist eingeführt wurde, rückte nun sein Cousin Alfred, gespielt von Brian Tyree Henry, immer mehr in den Mittelpunkt. Er sorgte gleichzeitig für die einnehmendsten Momente. „Paper Boi“ will seinem Image als harter Rapper treu bleiben, deshalb spielen sich die Emotionen im Angesicht seiner zahlreichen frustrierenden Erlebnisse eher im Inneren ab. Dennoch bleibt die Figur für Zuschauer zugänglich.
Selbst wenn Henry ausdruckslos in eine Richtung schaut, werden Angst, Schmerz und Enttäuschung für den Beobachter erkennbar. Wörtlich und metaphorisch wird Alfred innerhalb der Saison fast ständig beraubt: Von seinem Dealer mit einer Pistole, weil der fälschlicherweise denkt, Alfred könne das Geld leicht mit Rap zurückverdienen, obwohl seine Karriere nicht einmal richtig begonnen hat. Von seinen jungen Fans, die dem gleichen Irrtum anheimfallen. Mitarbeiter eines Platten-Labels rauben ihm den Respekt, weil sie ihn wie ein exotisches Tier behandeln und ein Friseur raubt ihm seine Zeit, als er ihn durch eine Reihe von Missgeschicken schleppt.
Trivia zu «Atlanta»
- Alle Raps des fiktiven Charakters "Paper Boi" schreiben und singen Donald Glover und sein Bruder Steve
- Donald Glover beschrieb die Serie als "«Lass es, Larry», nur mit Rappern"
- Glover wuchs in Atlanta auf und arbeitete ebenfalls als Musiker. Er sagt, die Stadt habe den Ton der Serie beeinflusst.
- Alle Autoren der Serie sind Afro-Amerikaner
- Glover pitchte die Serie als "David Lynch, wenn er eine Serie über HipHop-Kultur machen würde"
Alfred bleibt keineswegs das einzige Opfer in Staffel zwei. Vanessa (Zazie Beetz) wird ihrer Hoffnungen auf eine funktionierende, langfristige Beziehung mit dem Vater ihrer Tochter beraubt. Letzterer, Earn, beraubt sich selbst seiner Chancen auf Glück, indem er Alfred und Vanessa als gegeben hinnimmt und sich in eine Art intellektuellen Elfenbeinturm zurückzieht, obwohl er in der Folge „Money Bag Shawty“ seiner Würde beraubt wird, indem alle Personen, die ihn antreffen, davon ausgehen, als schwarzer Mann mit Geld müsse er entweder durch Verbrechen dazu gekommen sein oder er wirft mit Falschgeld um sich. Nur eine von vielen Momenten, in denen «Atlanta» den systemischen Rassismus in der US-Gesellschaft offenlegt.
Dann wäre da noch die Episode „Teddy Perkins“, die fast über Nacht Legendenstatus erreichte. Darin avancierte Darius zum Helden einer Horror-Sozial-Satire über zwei Musikkünstler-Brüder, die von ihrem gewalttätigen Vater einer glücklichen Kindheit beraubt wurden, um in der Welt der Musik Erfolg zu haben. Die Bezüge zur Geschichte von Michael Jackson sind offensichtlich, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Titelfigur der Ausgabe, ein Afroamerikaner, sich zu einem weißen Mann hat umoperieren lassen. „Teddy Perkins“ sieht sich wie eine Mischung aus der Kino-Sensation «Get Out» und «Der Tatortreiniger».
Experimentell, symbolisch, tiefgründig: Serien-Chimäre «Atlanta»
Überhaupt vertraut «Atlanta» in jeder Episode auf die Kraft seiner Dialoge, die deutlich mehr Zeit einnehmen als in anderen Serien. Durch diesen Minimalismus vermittelt «Atlanta» gleichzeitig sehr viel mehr Botschaften. Den Zuschauer beraubt «Atlanta» damit seiner Vorstellungen, wie eine Serie sein sollte, insbesondere eine Serie über Afroamerikaner, arme Menschen, junge Menschen oder eine Kombination daraus. «Atlanta» entzieht sich jedem Schubladen-Denken. Ursprünglich wurde das Format als Comedy-Serie angekündigt, stattdessen scheint sie sich oft sehr viel wohler damit zu fühlen, überhaupt nicht lustig, sogar lieber alarmierend oder schreckenserregend zu sein. An anderen Stellen kommt das FX-Format eher verquer komisch daher anstatt auf Lacher abzuzielen. Dabei erinnert die meist von Regisseur Hiro Murai inszenierte Serie optisch an experimentelle Arthouse-Indie-Streifen.
Der experimentelle Charakter spiegelt sich auch im Umgang mit dem Kern-Cast wieder. In Staffel eins konzentrierte sich «Atlanta» noch auf Earn, Vanessa, Darius und Alfred, die häufig zusammen in Szenen interagierten. Immer häufiger trennte «Atlanta» die Charaktere in Staffel zwei, beraubte sie damit der Sicherheit der Gruppe. Weil die vermeintlichen Hauptfiguren immer mehr auf andere Figuren reagieren, sich um sie kümmern oder durch sie leiden mussten, wurden Gast-Darsteller teilweise zu den eigentlichen Protagonisten. Jede Episode hat eine Art Prolog als Szene, die in ihrer oft surrealen Machart an «Twin Peaks» erinnern, das Glover in Interviews des Öfteren als Inspirationsquelle erwähnte. Ausgaben wie „Teddy Perkins“ oder „Woods“, in der Alfred durch einen Wald irrt und gleichzeitig durch sein eigenes Innenleben, unterstreichen diesen Einfluss. Bilder wirken traumhaft oder metaphorisch, obwohl die Serie keinen Zweifel daran lässt, dass sie tatsächlich geschehen.
Reiht man all diese Episoden, diese kleinen Geschichten, nebeneinander auf, erkennt man den Unterschied zwischen Kurzgeschichten und einem ganzen Roman. Obwohl «Atlanta» bruchstückhaft erzählt und den Konventionen eines horizontal erzählten Formats widerstrebt, entwickeln sich die Charaktere immer weiter. Jede Episode funktioniert alleinstehend als Darstellung von Situationen oder Begegnungen, die fast immer mit einer Art Realisierung oder Verdrängung seitens der Charaktere enden. Die übergeordnete Geschichte wird damit subtil vorangetrieben und über den Lauf der Saison vereint. «Atlanta» handelt noch immer vom hochintelligenten Versager Earn, der desillusionierten Vanessa, dem philosophischen Darius und dem eigentlich weichen Gangster-Rapper Alfred. Und gleichzeitig von viel mehr.
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