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«Weissensee»: Deutschland lernt seinen Osten kennen

«Weissensee», dessen vierte Staffel heute Abend im Ersten startet, ist als Serie für Deutschland so wichtig wie wohl nie zuvor.

Ostdeutschland steht unter Beobachtung. Was bis auf einen kurzen Schwall der Wiedervereinigungsfreude nach dem Mauerfall kein Ereignis zu erreichen vermochte, ist durch die erschreckend hohen Wahlergebnisse der Alternative für Deutschland in den neuen Bundesländern zustande gekommen: Der Osten hat die ungeteilte Aufmerksamkeit des Westens. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass in einer der großen überregionalen Zeitungen ein umfangreicher Artikel erscheint, der den Osten erklären will: den Westdeutschen und den Ostdeutschen selbst.

Weshalb finden rechtspopulistische bis rechtsradikale oder neofaschistische Persönlichkeiten, Parteien oder politische Organisationen im Osten eine so immense Zustimmung, die sich nicht nur durch ihre Massen, sondern auch in ihrer rabiateren, extremeren Qualität von ihrem Widerhall im Westen (selbst in Bayern) unterscheidet? Welche Linie führt von den Montagsdemonstrationen für Freiheit und Selbstbestimmung zur massenhaften Wahl einer Partei und Unterstützung von Persönlichkeiten und Organisationen, die Freiheit nicht in individueller, persönlicher Entfaltung in Form eines Gesellschaftsvertrags mit starken Abwehrrechten gegen den Staat für alle sehen, sondern nur in einer Freiheit von supranationalen Gebilden zum Zwecke einer Stärkung der Volksgemeinschaft, die ihre Minderheiten, ob ethnisch, religiös oder ideell, so weit wie zumindest nicht allzu offensichtlich faschistisch marginalisieren möchte.

Wenn sie wollte, könnte die neue Staffel von «Weissensee» darauf Antworten geben: Denn sie spielt in der Zeit des Übergangs, zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, als der Grundstein für das Zusammenwachsen West- und Ostdeutschlands gelegt wurde, das von nicht wenigen Ostdeutschen heute vielmehr als Annexion verstanden wird. Dabei können die Figuren sowie ihre Handlungen und Haltungen durchaus als Allegorien verstanden werden:

Cast & Crew

  • Darsteller (Auswahl): Florian Lukas, Jörg Hartmann, Uwe Kockisch, Ruth Reinecke
  • Anna Loos, Lisa Wagner, Claudia Mehnert
  • Buch & Regie: Friedemann Fromm
  • Musik: Stefan Mertin und Martin Hornung
  • Kamera: Michael Wiesweg
  • Produktionsleitung: Sebastian Stürmer
  • Produktion: Ziegler Film
Falk Kupfer, der überzeugte MfS-Funktionär, der nie ein Problem mit den harten, mitunter menschenverachtenden Bandagen seines Regimes hatte, an deren Notwendigkeit er treu und an dessen Aufrichtigkeit er unerschütterlich glaubte, konnte sich mithilfe alter Seilschaften in den Zeiten des Umbruchs absichern. Jetzt ist er eingebunden in ein klandestines Geflecht aus komplexen Verpflichtungen ehemaliger Stasi-Führer und will Kasse machen, indem er sich einem westdeutschen Versicherungskonzern andient, der in der Wende ein Milliardengeschäft wittert.

Seine Mutter Marlene ist derweil damit beschäftigt, altes SED-Geld über Moskau und Zürich zu waschen, um es vor dem westdeutschen Zugriff zu schützen. Ihr Mann Hans, wie sein Sohn Falk ebenfalls ehemals ranghoher MfS-Funktionär, ergreift derweil die politisch gegensätzliche Richtung: Schon zu Perestroika-Zeiten war er dem reformerischen und vergleichsweise menschenfreundlichen Flügel der ostdeutschen Funktionärselite zuzuordnen, der zunehmend Zweifel hegte, wie sinnvoll, tragfähig und menschlich es war, Dissidenten einzusperren, zu foltern und verschwinden zu lassen. Nun setzt er sich für die Öffnung der Stasi-Akten ein. Wende und Wiedervereinigung sollen – mit den Worten einer anderen Figur: – nicht nur darin bestehen, dass alle nach Mallorca fliegen und in der wirtschaftlichen Stabilität der D-Mark leben können. Selbstredend führt das zu Konflikten mit denen, deren schändliche Taten bei einer solchen Aktenöffnung bekannt würden – aber auch mit den Ansichten von manch durchschnittlichem DDR-Bürger: Wenn die Akten geöffnet würden, befürchten sie, gäbe das Mord und Totschlag.

Diese Meinung äußert Martin Kupfer, Hans und Marlenes anderer Sohn und Falks Bruder, der mit der Familie nahezu vollständig gebrochen hat. Aus Gründen: Falk hatte seine große Liebe jahrelang eingesperrt, sie damit schwer traumatisiert und den Beiden ihr Kind wegnehmen lassen. Beruflich ist Martin derzeit damit beschäftigt, die Schreinerei, die er mit zwei ebenso engagierten Kollegen faktisch führt, bei der Umwandlung vom volkseigenen Betrieb in ein privatwirtschaftliches Unternehmen vor dem Konkurs zu retten. Diese Herausforderung ist immens: Denn spätestens die Einführung der D-Mark – schon zum Jahreswechsel 1990 nur eine Frage der Zeit – wird die Produktionskosten vervielfachen. Hin und wieder sucht er dafür auch Hilfe bei Vera, der Ex-Frau seines Bruders, die voll innerer Überzeugung für die Treuhand arbeitet und sich im Wahlkampf für die Bürgerrechtsbewegungen einsetzt, sowohl um die zu schnelle Einführung der D-Mark zu verhindern, als auch aus Ekel vor den Seilschaften der ehemaligen Blockparteien.

Noch ehe sich Martin wieder an seine Familie annähert, hat seine Partnerin, die Westberliner Journalistin Katja Wiese, die Kontakte bereits aus beruflichen Gründen wieder intensiviert: Für Martins Vater Hans ist sie auch aufgrund ihrer hohen journalistischen Integrität ein willkommener Kanal, um für sein Herzensprojekt, die Aktenöffnung und die Aufarbeitung des DDR-Unrechts, zu werben, während sie von Vera erschütternde Interna aus der Treuhand erhält. Veras Sohn Roman lernt unterdessen die Gesellschaft von gleichaltrigen Neonazis zu schätzen – sehr zum Entsetzen seines Vaters Falk und zur entsetzlichen anfänglichen Gleichgültigkeit seiner Mutter.

Mit Roman schließt sich dann auch der Kreis dieser Ost-Betrachtung: Seine Geschichte – sofern sie nicht doch noch in einer läuternden Katharsis enden sollte – könnte freilich in das erste Großereignis münden, das Westdeutschland vor Augen führte, dass man den Osten, nun Teil des eigenen Landes, doch nicht so kannte wie man gedacht hatte: die Anschläge auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen 1992, die freilich noch in der Zukunft der erzählten Zeit von «Weissensee» liegen.

In der Erzählung der Umbruchszeit von der ostdeutschen Konkursmasse hinein in die wiedervereinigte Bundesrepublik ist die Serie sichtlich bemüht, ein Panoptikum der DDR-Restbestände abzubilden, das in seiner betont breiten Fächerung in einigen Momenten etwas zu forciert wirkt: Der Dualismus aus Hans und Falk Kupfer, dem gutmütigeren, aufrichtigeren, komplizierteren und in gewisser Weise sanfteren MfS-Offizier auf der einen Seite, und dem schneidigen, brutalen, oft niederträchtigen, dem Regime immer treu ergebenen (und das reinen Herzens!) auf der anderen Seite. Die anfängliche Euphorie der Bürgerrechtsbewegungen, weil der Mauerfall und das Ende der SED-Diktatur in besonderer Weise ihr Verdienst gewesen war, und die bittere Enttäuschung bei den Wahlen, als klar wird, dass sie diesen Verdienst nicht in politischen Einfluss ummünzen können. Die weiteren rechtswidrigen Machenschaften und Klüngeleien der besonders abstoßenden SED-Funktionäre, ihre Andienung an gewinnsüchtige westdeutsche Unternehmen und das Aufbegehren ihrer Opfer, die Aufklärung und Gerechtigkeit wollen. Die durch VEB-Bankrotte und Firmenschließungen zerstörten Lebensläufe, die Perspektivlosigkeit in der neuen Zeit und die Inkompetenz und Korruption der Treuhand. Und – auf besonders schmerzliche Weise ist das folgerichtig – die völlige Abwesenheit von Dunja Hausmann, einer Dissidentin, die das SED-Regime in Alkoholismus, Depression und Vernichtung getrieben hatte.

Ein wenig beschleicht einen das Gefühl, dass diese vierte Staffel im Vergleich mit den Vorgängerfolgen etwas an erzählerischer Raffinesse verloren hat: Manche Milieubeobachtung ist etwas oberflächlicher, als die dramaturgischen Möglichkeiten dieser Serie es zugelassen hätten, und ebenso wirkt die hier erzählte Wandlung des besonders kaltherzigen und brutalen Falk Kupfer hin zu einer ersten Einsicht und schließlich vielleicht gar einer Abbitte für seine Taten trotz der vielen aufrichtig ergreifenden und mit großer Zartheit geschriebenen Szenen doch eher wie ein herzlicher Wunsch als eine glaubhafte Entwicklung.

Diese (vernachlässigbaren) Kritikpunkte haben jedoch keinen Einfluss auf den Umstand, dass «Weissensee» als stark und klug erzählte Serie mit ihrer neuen Staffel politisch und gesellschaftlich wahrscheinlich relevanter ist als je zuvor, auch wenn sie dafür den auf den ersten Blick einfacheren, aber vielleicht gerade richtigen Zugang gewählt hat: Sie zeigt mehr als dass sie erklärt; sie führt die Umstände vor und verweigert sich wo sie kann einer Wertung. Nicht minder erstaunlich bleibt vor diesem Hintergrund, wie gut die Allegorien sitzen, ohne dass sie als solche auffallen. Die Komplexität der Charaktere geht weit über ihre Rollen und Haltungen zum SED-Staat hinaus, ihre Beziehungen zueinander sind nicht (ausschließlich) von vorhersehbaren politischen Konstellationen geprägt, was der Figurenorchestrierung eine besondere Lebensechtheit verleiht. Und in diesen klug personalisierten Entwicklungen bekommen wir doch ein Gefühl für die Umstände, aus denen die ostdeutsche Wut entstanden sind: ein diffuses und wenig greifbares Gefühl freilich, aber eines, das doch wahrhaftiger und solider argumentiert wirkt als die meisten Leitartikel mit ihrem Hang zur Monokausalität und Stereotypisierung: zwei Kritikpunkte, die sich «Weissensee» nie ankreiden lassen musste.

Das Erste zeigt sechs neue Episoden von «Weissensee» am Dienstag-, Mittwoch- und Donnerstagabend, jeweils ab 20.15 Uhr in Doppelfolgen.
08.05.2018 10:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/100803
Julian Miller

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Weissensee

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Es gibt 8 Kommentare zum Artikel
Kaffeesachse
13.05.2018 22:43 Uhr 6
Nein, natürlich ist es gar nicht dämlich, "aus Protest" eine Partei mit den Höckes, Poggenburgs und Gaulands dieser WElt zu wählen. Neo, du verstehst das nur nicht. 8) :lol:

Und die "richtigen Rückschlüsse" sind leider, dass sich von der CSU über große Teile der CDU bis hin zu Herrn Lindner (der ja schon in Bäckerschlangen unterscheiden mag, wer da sein Brötchen bestellt) alle an die AfD-Wähler ranwanzen.



Aber hier geht's ja um "Weissensee". Hm, hab ich nie gesehen, aber ich muss den Osten auch nicht kennenlernen, ich wohn ja hier.
Neo
13.05.2018 22:52 Uhr 7
Aber das mit der Bäckerschlange finde ich ja doch ziemlich overhypted und tatsächlich hysterisch. Sicherlich ein krudes Beispiel (dachte ich beim Hören der Rede auch), aber definitiv nichts zum Ranwanzen und das schon gar nicht von einer liberalen Partei, die von den AfD Wählern nun wirklich nichts erwartet bzw. zu erwarten hat. Habe im Zuge des Parteitages nun so viel dazu gelesen und rege mich da eher über die übersensibilisierten Leutchen auf, die da einfach was rassistisches sehen wollen.



Und ja, Weissensee muss ich noch nachholen. :P
Kaffeesachse
13.05.2018 23:02 Uhr 8
Die Bäckerschlange macht einfach mal überhaupt keinen Sinn. Als ob man sich dort solche Gedanken macht. :lol:

Aber gut, walzen wir das mal hier nicht weiter aus. Vielleicht führt das hier ja jemand zurück zur Serie. 8)
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