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Drei Gedanken zu «Dark»

Julian Miller beschäftigt sich mit drei Interpretationen zur ersten deutschen Netflix-Serie «Dark»: einer französischen, einer amerikanischen und einer (sehr) deutschen. Über erzählerische Wirkung, Mysterien – und Atomkraftwerke.

In einem Gespräch mit dem französischen Medium „Télérama“ führte einer der Schöpfer von «Dark» eine interessante Beobachtung zu seinem Format an, das Anfang Dezember – dies schlussfolgert auch „Télérama“ in dieser Rezension – der deutschen Serie eine neue erzählerische Kraft verlieh: die Vielseitigkeit seiner Genres. In den ersten Minuten mag man sich an «Broadchurch» erinnert fühlen, ein Kleinstadtdrama in der englischen Provinz um ein verschwundenes Kind, in dessen Verlauf mit scharfem Verstand und immensem psychologischen Interesse die Milieus, Seilschaften und die Werte wie die Ideale des Ortes seziert werden. Schon bald scheint sich der Genre-Schwerpunkt in «Dark» allerdings zu verlagern: Spätestens, wenn die düstere Höhle in den Wäldern ein immer präsenterer Spielort wird, bedient sich die Serie Muster und Erzählelemente, die aus einschlägigen Horror-Produktionen bekannt sind. Je tiefer sich das Format schließlich in das seiner Narrative zugrundeliegende Mysterium vorarbeitet, desto eher bewegt sich die Erzählung auf das Terrain des Science-Fiction.

Genre-Mixe sind deutschen Fernsehfilmen und –serien nicht fremd. Aber höchst selten – vielleicht nie – sind sie so gelungen wie «Dark»: Weil «Dark» vielleicht als erstes deutsches Serien-Format in sehr, sehr langer Zeit begriffen hat, dass sich Genres nicht einfach addieren lassen, und dass bei unbedachten, eher strategisch als künstlerisch konzipierten Amalgamierungen – ob aus Thriller und Krimi, Krimi und Drama oder Komödie und Krimi – das eine Genre meist auf dem anderen parasitiert, anstatt dass sie sich zu einer sinnvollen Erzählung ergänzen.

«Dark» schien den umgekehrten Weg gegangen zu sein. Das Format denkt von seiner Wirkung her: Eine der primären künstlerischen Zielsetzungen ist die Schaffung einer kohärenten, einnehmenden, ja: packenden, mitreißenden, den Zuschauer nicht mehr loslassenden Atmosphäre. Gerade im deutschen Fernsehen gelingt das nur einer sehr geringen Zahl an Filmen und Serien – vermutlich, weil dieses Ziel bei zu vielen widerstreitenden Interessen der Beteiligten („Unsere Zuschauer sind adipös und wollen Gewohntes.“) und den damit verbundenen viel zu vielen Kompromissen aus dem Blickfeld gerät. Lektüreempfehlung am Rande: Edgar Allan Poe, „The Philosophy of Composition“

„Irgend etwas geht seinen Gang“, ist eine der präziseren Diagnosen, die Samuel Beckett in seinem absurden Theaterstück „Endgame“ eine seiner Figuren stellen lässt. «Dark» ist – wie «Twin Peaks» oder «Stranger Things», mit denen es gerne verglichen wird – nicht ganz so weit entfernt von einer tatsächlichen Lebensrealität wie das sonderbare Drama um Hamm und Clov. Und doch ist das Entrückte ein zentrales Element des Formats, und wohl auch ein Grund für seinen besonderen Reiz. Alle, die sich – wie etwa das amerikanische Kulturmagazin „Vulture“ – primär mit dem Mysterienkonstrukt beschäftigen, sind bei ihrer Deutung der Serie jedoch auf dem Holzweg. Das Verschwinden der Kinder und Jugendlichen ist – wie der Tod von Laura Palmer – nur ein Auslöser, ein präziser Grund, der uns hineinzieht in die Welt, die wir betrachten wollen. An äußerer Handlung muss nicht so viel passieren. Es kommt nicht so sehr darauf an, nach welchen Mechanismen die MacGuffins nun genau funktionieren, welchen physischen Regeln die Zeitreisen von A nach B unterworfen sind – wobei freilich gerade der Punkt, an dem die Physik zur Metaphysik wird, von zentraler Bedeutung ist. Es geht um die Menschen und ihr Leben, um ihre Reaktion im Angesicht des Unmöglichen, um die Stabilität oder Instabilität ihrer gesellschaftlichen Strukturen und ihrer seelischen Verfassung.

Und über allem thront das Atomkraftwerk, das – wie mein Kollege Jan Schlüter drüben bei „Coopers Kaffee“ anmerkt – eine urdeutsche Angst symbolisiert: eine Mischung aus der deutsch-romantischen Verklärung eines natürlichen „Urzustandes“ und der (ins Irrationale übertriebenen) Furcht vor dem Versagen der Technik; die Befindlichkeit, dass die Kontrolle des Menschen über die Natur nur eine Illusion ist, und dass uns all der technische Fortschritt nur unbedeutende Zentimeter vom natürlichen Chaos entfernt hat, das wir eigentlich nur verschlimmern. Anders als die gerade vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gerne heruntergekurbelten Problemfilme illustriert «Dark» jedoch diese Angst, anstatt sie zu befeuern, zu fördern oder sie mit fadenscheinigen Argumenten zu unterfüttern. Diese Serie öffnet nicht die verstaubte Kiste aus tumben Scheinargumenten, sondern macht diese Angst und Befindlichkeit erlebbar – auch vor dem Hintergrund der persönlichen Biographie der Macher: In ihrem Gespräch mit „Télérama“ führte Jantje Friese die Tschernobyl-Katastrophe als das erste erschütternde Ereignis ihres Lebens an, und sprach davon, wie ihre Mutter ihr damals verboten hatte, draußen zu spielen. Wo in amerikanischen Filmen von Chemiekonzernen gerne nachts Giftmüll in den See geworfen wird, wird in «Dark» radioaktiver Abfall in einer ohnehin mysteriös-furchterregenden Höhle gelagert. Typisch deutsch – aber dieses Typische ist hier einmal kein tumbes Stereotyp, sondern die Illustration einer in der Gesellschaft tief verankerten Vorstellung.
20.12.2017 11:52 Uhr Kurz-URL: qmde.de/97907
Julian Miller

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Tags

Broadchurch Dark Stranger Things Twin Peaks

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