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«Lore»: Horror, der bleibt

Amazon adaptierte den in den USA berühmten gleichnamigen Horror-Podcast von Aaron Mahnke und machte daraus ein schaurig-schönes, kluges Bewegtbild-Format.

Die Menschheitsgeschichte ist voll von grausigen Anekdoten, unheimlichen Begebenheiten und (historischen) Ereignissen von schier unfassbarer Barbarei. Sie aufzustöbern und zu erzählen, macht sich seit zwei Jahren Aaron Mahnke mit seinem Podcast „Lore“ zur Aufgabe. Mit diesem Format hat er Amazon auf sich aufmerksam gemacht, das für seine ebenfalls «Lore» genannte Serie sechs grausam-gruselige Geschichten szenisch verfilmt hat.

Die Premiere führt zurück ins Neuengland des frühen neunzehnten Jahrhunderts, dort, wo in den 1690ern in einer der größten Massenpaniken der Menschheitsgeschichte Hexen verbrannt wurden. Doch auch hundert Jahre später sitzt der Aberglauben noch tief: Anders sind bei den primitiven wissenschaftlichen Erkenntnissen Phänomene wie die Schwindsucht nicht zu deuten.

Die zweite Folge dagegen beschäftigt sich mit weit weniger lang zurückliegenden Ereignissen: der Erfindung der Lobotomie im frühen zwanzigsten Jahrhundert und den verheerenden Schäden, die diese desaströse Hirnchirurgie bei Tausenden Patienten hinterlassen hat. Spätestens hier macht Mahnke deutlich, dass der zerstörerische Aberglauben und die Irrwege menschlicher Vorstellungskraft uns nicht mit der Aufklärung verlassen haben, und dass der Wahn nicht selten im Gewand von scheinbarer Wissenschaftlichkeit daherkommt.

Dem Amazon-Format «Lore» gelingt vor allem eines vortrefflich: Es erfüllt exakt die Erwartungen, die man an eine verfilmte Version von Mahnkes Podcast haben kann, es überzeugt mit derselben Haltung und denselben klugen Analysen.

Denn die grundsätzliche Ambition hinter Mahnkes «Lore» geht über den durchdachten, einnehmenden Vortrag von Schauergeschichten deutlich hinaus: All seine Folgen sind geprägt von einer feinsinnigen Analyse und bieten den Zuhörern (und neuerdings Zusehern) an, mit auf eine Reise zu kommen in die Tiefen der menschlichen Psyche und die oftmals erschreckenden Niederungen des Unterbewusstseins. Der Schauer, wie Mahnke ihn auffasst, geht oft nicht von externen Quellen aus, von gruseligen Monstern oder unheimlichen Wesen, sondern von uns selbst: als ein Konstrukt unserer Gedanken- und Gefühlswelt, aus Fehldeutungen der feindlichen Welt um uns.

Mahnke und «Lore» bieten uns keinen Horror der Jump-Szenen, in denen plötzlich Geister durch Wände kommen oder Unwesen uns ins Gesicht springen. Der Horror von Mahnke ist intensiver, er bleibt und geht nicht weg, denn er ist im Kern: real, ein zutiefst menschliches Empfinden. Der Quell der größten Angst, der größtmöglichen Schrecken sind wir selbst, und auch all unser Fortschritt, der gedankliche wie der technologische, machen uns nicht vor ihm gefeit.

Dabei ist «Lore» niemals eine fortschrittsfeindliche Serie, geschweige denn eine fatalistische: Doch der Schrecken, der Horror, das Schaurige, all das ist uns geblieben, und Mahnke gelingt es vortrefflich, diese intelligenten Gedanken mit einer schaurig-schönen Lagerfeuer-Grusel-Romantik zu verweben. Eine hervorragende Adaption!
07.12.2017 10:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/97577
Julian Miller

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Lore

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