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Filmschmiede Nollywood: Heute Nigeria, morgen die Welt?

Nigeria stellt die weltweit zweitgrößte Filmindustrie. Umsatz und Rentabilität wachsen rasant, nun mischt ein eigenes Netflix-Pendant den Markt auf. Wann erobert Nollywood den Westen?

Anteil von Hollywood-Produktionen in den Top 30 der Kino-Charts 2016

  • in Deutschland: 26 von 30 (erfolgreichster Film: «Rogue One: A Star Wars Story»)
  • weltweit: 28 von 30 (erfolgreichster Film: «Captain America: Civil War»)
Die Popularität des Kinos hängt zu einem wesentlichen Teil auch von den Lebenswelten seines Kulturraums ab, aus dem seine Produkte stammen - das wissen die Deutschen nur allzu gut. Der deutsche Film findet dieser Tage kaum noch Erwähnung über die Landesgrenzen hinweg, erstmals seit langer Zeit darf sich dieser Tage mit der Familiendramödie «Toni Erdmann» wieder eine deutsche Produktion ernsthafte Hoffnungen auf einen Auslandsoscar machen. Gehen wir einen Schritt weiter: Zwar fanden nach dem Erfolg von «Ziemlich beste Freunde» auch immer mehr französische Komödien Einzug in deutsche Lichtspielhäuser, auch der kontinentaleuropäische Film wird aber heutzutage von Vielen noch immer im Genre verortet und erreicht nur in Einzelfällen europaweit oder kontinenteübergreifend ein großes Publikum.

Nein, noch immer dominiert in der westlichen Kultur klar Hollywood, allein 2016 fanden sich unter den 30 erfolgreichsten Kinofilmen des Jahres in Deutschland nur vier deutsche Produktionen, der gesamte Rest entfiel auf Spielfilme mit US-amerikanischer Beteiligung. Unterdessen kann der von US-Produktionen dominierte Westen die Kino-Kassenschlager in anderen Kulturen nur erahnen. Unter dem Spitznamen Bollywood, der Filmindustrie im indischen Raum, kommen Kinoliebhabern hierzulande vor allem Werke in den Sinn, durch die bunt gekleidete Personen singen und tanzen, nur die wenigsten werden einen Bollywood-Film schon einmal gesehen haben. Mit jährlich bis zu 2.000 Spielfilmen und rund einer Million Beschäftigten kann jedoch noch eine andere Filmindustrie aufwarten, die sich jenseits der Wahrnehmung hierzulande zur zweitgrößten Filmindustrie der Welt entwickelt hat. Gemeint ist „Nollywood“, der Nigerianische Film.


Nollywood legt die Kinderschuhe endlich ab


Nigerianische Filme im Toronto International Film Festival 2016

  • «The Wedding Party»
  • «93 days»
  • «The Arbitration»
  • «Okafor's Law»
  • «76»
  • «Green White Green»
  • «Just Not Married»
  • «Taxi Driver»
An der gerade ausgerichteten Berlinale nehmen nigerianische Filmschaffende schon seit 2004 teil, im vergangenen Jahr setzte auch das international renommierte Toronto International Film Festival sein „Spotlight“-Segment erstmals auf Nollywood-Produktionen. Wie konnte die boomende afrikanische Industrie bisher an so vielen Filmfans vorübergehen? Obwohl nur Bollywood mehr Filme produziert als der nigerianische Film stellt Nollywood noch immer ein weitestgehend regionales und nationales Phänomen dar, das sich in naher Zukunft anschickt, auch endlich andere Kulturkreise zu erreichen. Setzte Nollywood lange Zeit noch auf sehr kommerzielle und damit häufig wesentlich preiswertere Filme als anderswo, wendet die aufkommende jüngere Generation immer höhere Budgets, mehr Zeit sowie einen wesentlich höheren technischen und künstlerischen Anspruch auf, wonach auch die Filmfestspiele in Toronto sich dazu entschieden, dem Aufstieg Nollywoods Tribut zu zollen.

Dass erst in den vergangenen Jahren auch der qualitative Anspruch immer weiter zunahm, obwohl der Nigerianische Film seine Ursprünge in den 1970er Jahren hat und schon seit den 90ern in größerem Umfang produziert, liegt auch am veränderten Stellenwert Nollywoods. Als ein Wirtschaftszweig wie viele andere auch, diente die hiesige Filmindustrie zunächst einmal dazu, für mehr Wohlstand zu sorgen. An Filmförderung ist in Nigeria kaum zu denken, zusätzlich hat nicht einmal die Hälfte der Einwohner Zugang zu staatlicher Elektrizität. Dennoch hat Nigeria vor fast zwei Jahren Südafrika als größte Volkswirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent überholt.

«Living in Bondage»

Als Geburtsstunde Nollywoods wird der nigerianische Film «Living in Bondage» angesehen, der 1992 als DVD-Veröffentlichung erschien. Im Drama-Thriller schließt sich Hauptfigur Andy Okeke einem geheimen Kult an, für den er seine Frau in einer rituellen Zeremonie umbringt. Zwar erhält er dadurch ungeheuren Reichtum, Glück bleibt ihm daraufhin jedoch verwehrt. Der Film verkaufte sich über eine halbe Million mal und wurde von Kenneth Nnebue, einem Videothekbesitzer, mit einer einzigen Videokamera gedreht.
Durch den finanziellen Aufbruch können es sich Nollywood-Produktionen dieser Tage nun auch leisten, künstlerisch wertvollere Stoffe zu produzieren, längst trägt Nollywood nämlich einen wesentlichen Teil zur nigerianischen Wirtschaft bei: Die nigerianische Regierung schätzte die Leistung Nollywoods im Jahr 2014 auf 3,3 Milliarden US-Dollar, 600 Millionen Dollar führe die Filmindustrie jährlich der nigerianischen Wirtschaft zu, gab die United States International Trade Commission 2014 bekannt.


Neue Märkte? Neue Themen!


Der deutlich gestiegene Produktionswert von Nollywood-Filmen stellt auch einen Ruf nach größeren internationalen Kollaborationen dar. Dass Nollywood den westlichen Kulturkreis nicht schon längst im Sturm erobert oder zumindest Duftmarken gesetzt hat, liegt jedoch auch an den Inhalten, die die meisten Filme dort noch immer bedienen. Einerseits bildet wohl nur Nollywood das Leben der Menschen in Afrika authentisch ab, während beispielsweise Hollywood in Filmen über Afrika den Kontinent vor allem als Ort der Exotik inszeniert. Andererseits sprechen die Themen, die in Nollywood-Produktionen häufig bemüht werden, europäische oder amerikanische Zuschauer dieser Tage wohl nur in den seltensten Fällen an – mit Voodoo-Magie, Problemen der Modernisierung oder Stammesloyalität können eben nur die wenigsten Einwohner westlicher Nationen etwas anfangen, während universellere Motive in Dramen meist über zu viel Pathos verfügen.

Auch dieser Herausforderung stellt sich der Nigerianische Film dieser Tage, wie die Schauspielerin Genevieve Nnaji den Journalisten im vergangenen Jahr in Toronto verriet: „Wir müssen ein größeres Publikum einladen und unsere Storylines und Kollaborationen offener gestalten. Das ist aktuell unser Fokus, deshalb bin ich froh hier zu sein“, erklärte die Darstellerin aus Nollywood-Filmen wie «Half of a Yellow Sun», der 2013 mit acht Millionen Dollar das bis dahin größte Budget eines Nollywood-Films vorwies. Dann könnte Nollywood bei derartig vielen Produktionen vom Umsatz her endlich weiter zu seinen Pendants in den USA oder Indien aufschließen. Nicht nur weil Nollywood dann endlich in neue Märkte vorstößt, sondern auch weil der einheimische Markt kaum Kinoerlöse ermöglicht.

Die 5 größten Filmmärkte nach Einspielergebnissen

  1. USA/Kanada: 11,1 Milliarden Dollar
  2. China: 6,78 Milliarden Dollar
  3. Vereinigtes Königreich: 1,9 Milliarden Dollar
  4. Japan: 1,8 Milliarden Dollar
  5. Südkorea: 1,7 Milliarden Dollar
Theatrical Market Statistics (2015)
Auf 180 Millionen Einwohner in Nigeria kommen nach Angaben der Filmschaffenden nur 29 Kinos. Die meisten nigerianischen Filme werden dieser Tage noch über DVD gesehen und auf eine Kopie kommen derzeit neun Raubkopien. Dieser Umstand stellt einen der Gründe dar, weshalb es Nollywood vom Umsatz her zurzeit nicht einmal in die globale Top 15 schafft und erklärt auch, warum Filmschaffende häufig noch immer zu günstigen und schnellen Drehs gezwungen sind, wenn sie eine finanziell rentable Produktion hervorbringen wollen: Mit Kosten von etwa 25.000 Dollar pro Film hat man das Budget meist nach ein bis zwei Wochen im Verkauf schon eingespielt. Schon kurze Zeit später überfluten Raubkopien den Markt und die Produzenten verdienen kaum noch an ihrem Produkt.

iROKOtv: Netflix aus Nigeria


Jason Njoku hat einen Weg gefunden, die unbefriedigende Vertriebssituation zu lösen. Innerhalb von sechs Jahren stieg der gebürtige Londoner zum bedeutendsten Onlinevertreiber für nigerianische Filme aus, mit der Plattform schuf er die nigerianische Antwort auf Streaming-Riese Netflix. Die Mediathek von iROKOtv kann über die ganze Welt abgerufen werden, knapp 300 Millionen Filme sahen im Jahr 2015 Abonnenten des Dienstes, der die Rechte an etwa 6.000 nigerianischen Filmen hält. Das machte iROKOtv auch für Investoren interessant, die dem Unternehmen bislang etwa 35 Millionen Dollar zuschossen – die größte Unterstützung, die je ein Tech-Start-Up in Afrika erhielt.

Als Njoku zusammen mit einem ehemaligen Kommilitonen aus Berlin vor einigen Jahren in Lagos, dem Zentrum des Nigerianischen Films, seine Zelte aufschlug, fand er arglose Produzenten vor, die bis dahin nie auch nur einen Gedanken an einen Onlinefilmvertrieb aufwandten und bei Angeboten Njokus das Potenzial der Idee nicht erkannten. Früher erstand der 36-Jährige die Rechte somit teilweise für etwa 100 Dollar, heute belaufen sich die Kosten für einen Film auf bis zu 25.000 Dollar, womit auch die Produzenten sich endlich über eine höhere Rentabilität freuen können. Ende 2011 ging Njokus Streamingplattform nach dem Netflix-Modell schließlich an den Start, nachdem das Unternehmen die Filme davor noch über YouTube vertrieb und sich über Werbeeinnahmen refinanzierte. Heute zählt iROKOtv 100 Mitarbeiter in Lagos, New York und London, der Löwenanteil des Umsatzes wird mittlerweile mit Apps verdient, die die Sichtung erleichtern anstatt mit der Streamingplattform selbst.

Viele Pendler, die oft Stunden lang im Bus nach Lagos verbringen, nehmen das Angebot gerne an, die unterentwickelte Infrastruktur der Stadt verlängert die Wartezeit sogar noch und erhöht damit das Bedürfnis nach kurzweiliger Unterhaltung. Noch entfallen aber nur zirka 20 Prozent der Downloadumsätze auf Nigeria selbst, die meisten Abos beziehen im Ausland lebende Nigerianer. Doch auch der Bedarf im Inland wächst rasant, sodass sich Anfang 2016 schließlich auch Netflix in Lagos niederließ und mittlerweile eifrig Rechte an nigerianischen Filmen erwirbt. Gute Aussichten auf die Marktführerschaft sollte sich der amerikanische Streaming-Gigant jedoch nicht ausrechnen. Mit mittlerweile 1,50 Dollar im Monat wird Netflix den Preis iROKOtvs kaum unterbieten können, außerdem ist niemand in Nollywood so gut vernetzt wie iROKOtv. Heimspiel für Jason Njoku.
22.02.2017 11:01 Uhr Kurz-URL: qmde.de/91368
Timo Nöthling

super
schade


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Tags

Half of a Yellow Sun Toni Erdmann Ziemlich beste Freunde

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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Sentinel2003
22.02.2017 13:59 Uhr 1
Nigeria?? Echt....habe noch keinen einzigen Film aus diesem Land gesehen.
Nr27
22.02.2017 14:16 Uhr 2
Jetzt wissen wir auch endlich, wofür diese Heerscharen an nigerianischen Prinzen immer so viel Geld brauchen - für die Filmproduktion! :D



Aber ernsthaft: Obwohl ich mich sehr für Filme aus aller Welt interessiere (v.a. asiatische mag ich sehr gern) - einen nigerianischen habe ich bislang aber tatsächlich noch nicht gesehen ...
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