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Retro-Welle im TV: Warum lieben alle die 90er?

«I like the 90s» bei RTL, der «Summer of the 90s» bei arte, selbst der Fernsehgarten macht ein 90er-Special: Das Spaß-Jahrzehnt ist so angesagt wie nie im deutschen Fernsehen. Warum?

«I like the 90s»-Quoten-Quickie

  • F1: 16,9%
  • F2: 14,8%
  • F3: 16,2%
  • F4: 16,0%
MA 14-49, vier von fünf Folgen der ersten Staffel
Spaßgesellschaft, Loveparade, Buffalos, Eurodance, Sailor Moon, Tamagotchi: Die 90er Jahre waren bunt und werden mit vielen Begriffen überschrieben. Sie waren ein vermeintlich unschuldiges Jahrzehnt, in denen die politischen Aufreger der Rechtschreibreform und der hohen Arbeitslosigkeit galten. Das größte, vor allem mediale Ereignis der 90er war vielleicht der Tod von Lady Diana – nichts im Vergleich zu den Tragödien, die in anderen Jahrzehnten die Bevölkerung in Atem hielten. Lange scheint man sich für die bunten Jahre vor dem Millenium geschämt zu haben – zumindest wurden sie verdrängt: durch radikale Wechsel von Mode und Trends, durch das in der breiten Gesellschaft ankommende Internet und digitale Technologien, nicht zuletzt durch den 11. September 2001, der dem Jahrzehnt eine andere Tonalität verlieh.

Dieses Jahr 2014 feiert nun die Auferstehung der 90er, auch und gerade in den Medien: Jan Köppen präsentiert mittwochs – mit Erfolg vor allem beim jungen Publikum – die Retro-Show «I like the 90s»; Jan Böhmermanns «neo magazin» ist in sich eine Verneigung vor, gleichzeitig eine Persiflage auf das bunte Jahrzehnt. Ein explizites 90er-Special machte Böhmermann als Dank an seine Zuschauer, nachdem er den Grimme-Preis gewonnen hatte. Sein Video „Eine Hymne auf die 90er“ ging bei YouTube viral, erreichte über 500.000 Abrufe. Selbst der «ZDF Fernsehgarten» sendete jüngst eine 90er-Ausgabe mit musikalischen Verirrungen wie Rednex, Captain Jack und Whigfield. Die stilbildende 90er-Kultserie «Sailor Moon» wurde im Free-TV fast zehn Jahre nicht gezeigt, seit Februar holt sie bei VIVA fast sensationelle Einschaltquoten – werktags am Nachmittag sowie am Wochenende mit Fünffach-Ausstrahlungen, teilweise sogar zur Primetime. Und nach der Fußball-WM ruft arte den „Summer of the 90s“ aus, ganz im Zeichen früherer Sommerprogramme, die an die 80er oder 70er erinnerten.



Dass die 90er-Welle nicht nur eine Erfindung der Medien ist, zeigen unter anderem die zahlreichen Partys zum Jahrzehnt, die derzeit in fast jedem Winkel Deutschlands stattfinden. Und der in der Mode ausgerufene 90er-Trend, für den unter anderem Miley Cyrus stilbildend ist. Cyrus ist 21 Jahre alt, Anfang der 90er geboren, sie hat das Jahrzehnt in ihrer jungen Kindheit erlebt. Und sie gehört der Generation Y an, so bezeichnen Soziologen jene Bevölkerungsgruppe, die zwischen Anfang der 1980er und 2000er geboren wurde.

Die früheren Jahrgänge dieser Generation sind mittlerweile erwachsen, viele haben bereits die Ausbildung abgeschlossen, stehen im Job und haben vielleicht eine Familie. Es ist derzeit das erste Mal, dass sie das Jahrzehnt, in dem sie jung waren – als Kind oder als Jugendlicher – großflächig reflektieren können und wollen, weil sie erwachsen genug sind. Oder, um es negativ auszudrücken: Weil sie ‚alt‘ geworden sind, weil eine neue Generation nach ihnen heranreift. Und da Trends weniger gemacht werden, sondern entstehen, wenn die Zeit reif ist, ist die 90er-Welle genau das: Ein Trend, den viele junge Erwachsene jetzt erleben wollen, weil sie mit Verklärung und Nostalgie, vielleicht mit Wehmut auf das Jahrzehnt zurückblicken, in dem sie erwachsen(er) wurden. Die Medien und Fernsehshows tun nichts anderes, als diesen Trend zu bedienen, als dieses Nostalgiegefühl aufzugreifen.

Dass der 90er-Trend gerade jetzt kommt, ist angesichts des Generationenwandels also kein Zufall. Oft traten entsprechende Phänomene nach 10 bis 15 Jahren auf: In den 90er Jahren waren zeitweise die 70er in Mode und Musik populär. Berühmt wurde im Jahr 2000 der Begriff Generation Golf für die Jugendlichen der 80er, der einherging mit einer entsprechenden Retrowelle zum Jahrzehnt. Sie wurde unter anderem geprägt von Oliver Geissens «80er Show» bei RTL, die im Jahr 2002 über sechs Millionen Zuschauer sowie über 30 Prozent Marktanteil bei den Werberelevanten erreichte. Zwei Jahre später versuchte sich RTL dann an der «90er Show», die zum Quotenflop wurde. Wenig überraschend, wenn man überlegt, dass eine wichtige Zielgruppe dieser Sendung damals zu großen Teilen noch nicht einmal 20 Jahre alt war – also selbst noch in einem Alter, in dem man weniger zurückblickt, sondern eher Erinnerungen schafft. Gerade einmal vier Jahre später ein Jahrzehnt zu reflektieren, kann nur scheitern. Wenig geholfen hat zudem ein Moderator Oliver Geissen, der die 90er nur als Erwachsener erlebt hat – besser macht es RTL derzeit mit «I like the 90s» und Jan Köppen, einem echten Kind der 90er und damit einer bessere Identifikationsfigur für die Zuschauer.

Dass längst nicht jeder lieblose Retro-Aufguss im Fernsehen funktioniert, bewies so manche floppende TV-Sendung. Das «Familien-Duell» stellt eine – zumindest quotentechnisch – halbwegs positive Ausnahme dar, Neuauflagen wie die «Traumhochzeit», «Wolffs Revier» oder vor einigen Jahren die «100.000 Euro Show» gingen am Publikum vorbei. Derzeit soll an der Rückkehr von Formaten wie «Geh aufs Ganze!» und dem «Glücksrad» gearbeitet werden.

Inwieweit die alten Shows noch funktionieren, ist angesichts eines Aspekts generell unklar. Denn der 90er-Trend ist die erste Retrowelle, die digital erlebt wird: YouTube-Videos oder Blogs feiern das Jahrzehnt ab, im Netz kann der Fan zahllose Clips seiner früheren Lieblingssendungen finden. Er kann seine Erinnerungen sprichwörtlich anders konsumieren, wann immer und so oft er will. Dass das Fernsehen überhaupt noch gut geeignet ist, die nostalgischen Gefühle der Generation zu befriedigen, zeigt ansatzweise der Erfolg von «I like the 90s». Ob dies aber auch für großflächige Neuauflagen, für eine länger andauernde Retro-Welle gilt, muss es erst noch beweisen. Gerade im Fall dieser ersten Internet-Generation.
09.06.2014 12:02 Uhr Kurz-URL: qmde.de/71201
Jan Schlüter

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