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Die Kritiker: «Der Alte und die Nervensäge»

Feelgood-Komödien gehören nicht zwingend zu den großen Stärken deutscher Fernsehmacher. Oft sind die Geschichten gut, aber die Charakterzeichnungen schwach. «Der Alte und die Nervensäge» trägt die Figurenzeichnungen bereits im Titel. Der eine ist alt. Der andere, nun ja, eben eine Nervensäge. Das kann funktionieren. Vor allem dann, wenn die Handlung in ein Roadmovie eingebettet ist, in dessen Rahmen die Hauptfiguren irgendwie miteinander klarkommen müssen. Es kann aber auch daneben gehen. Was trifft auf den ARD-Film zu?

Stab

DARSTELLER: Jürgen Prochnow, Marinus Hohmann, David Rott, Karolina Lodyga, Katja Studt, Christian Erdmann
REGIE: Uljana Havemann
DREHBUCH: Nadine Schweigardt
KAMERA: Mathias Prause
SCHNITT: Bernd Schriever, Patricia Testor
MUSIK: Dirk Leupholz
KOSTÜME: Brigitte Nierhaus
TON: Sylvain Remy
PRODUKTIONSLEITUNG: Claudia Schurian
PRODUZENTIN: Anette Kaufmann
REDAKTION: Claudius Luzius, Nadine Becker (Degeto)
Es ist gar nicht lange her, um genau zu sein begab es sich im Juno 2020, dass das ZDF einen Roadmovie über drei Herren in den Vierzigern aufs Publikum losließ, die sich in diesem Fall auf dem Weg zu einem Konzert der Band „Madness“ zusammenraufen mussten. Drei Jugendfreunde, die sich nach Jahrzehnten wiedertreffen, auf ihrem Weg die eine oder andere Katastrophe erleben, manch einen Streit ausfechten - um am Ende doch in eine für sie bessere Zukunft zu schauen. Der fertige Film, «Der Sommer nach dem Abitur», entpuppte sich jedoch aufgrund zumindest einer unfassbar unleidlichen Figurenzeichnung als ein kaum erträglicher cineastischer Unfall. Es reicht eine Figur aus, die vollkommen gegen die Wand gefahren wird: Und von dem guten Gefühl, das die Zuschauer am Ende ergreifen soll, bleibt nur ein bitteres Sodbrennen übrig.

Nun sind es ein Alt-Star und ein Shooting-Star, die sich auf einen Roadtrip begeben und für etwas Schmunzel, ja vielleicht auch das eine oder andere Lachen sorgen sollen. Auf der einen Seite Jürgen Prochnow, der in Deutschland seit seiner Hauptrolle in «Das Boot» 1981 quasi einen unantastbaren Status als einer der ganz Großen der deutschen Kinowelt genießt (und dem man daher seine Mitwirkung in manch billigen Videothekskäse gerne nachsieht ). Auf der anderen Seite: Der erst 16 Jahre alte Marinus Hohmann, der gerade erst durch eine Hauptrolle in «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl» so etwas wie einen Durchbruch erfahren hat.

Prochnow ist Wilhelm Schürmann. Wilhelm lebt in Wuppertal, ist Witwer und irgendwie ein unleidlicher Charakter, der von niemanden behelligt werde will. Ausgerechnet an seinem 75. Geburtstag erleidet er im Garten einen Schwächeanfall. Allerdings wird er von seiner Tochter Bettina (Katja Studt) gefunden und ins Krankenhaus gebracht, wo es ihm auch gleich wieder bedeutend besser geht. Zufällig wird er während eines EKGs Zeuge eines Gespräches zwischen seiner Tochter und seiner Ärztin. Die Ärztin teilt Bettina mit, dass dies nicht sein erster Schwächeanfall gewesen ist. Was unter anderem daran liegt, dass er seinen Blutdruck senkenden Medikamente nicht einnimmt. In einem ersten Schritt soll ihm Bettina die Autoschlüssel abnehmen. Und dann vielleicht weitere Betreuungsschritte überdenken.

Das ist für Wilhelm zu viel. Kurzerhand flüchtet er aus dem Krankenhaus und steigt in ein Taxi. Kaum aber will das losfahren, springt ein junger Mann vor das Fahrzeug, zwingt dieses zum Anhalten und steigt zu Wilhelm auf die Rückbank - der aus verständlichen Gründen den ihm fremden Jungen rausschmeißen will. Jedoch hat er keine Zeit, sich auf Diskussionen einzulassen, da er Bettina bereits im Rückspielen kommen sieht. Also bitte, soll der Junge halt mitkommen, aber sobald er daheim ist – trennen sich ihre Wege.

Nun verbietet das Regelbuch des Roadmovies, dass sich die beiden rasch wieder voneinander verabschieden. Statt dass die beiden nach der Taxifahrt wieder ihre eigenen Wege gehen, folgt der Junge, Felix mit Namen, Wilhelm ins Haus und erklärt diesem flugs, dass sie offenbar recht ähnlich gelagerte Probleme haben. Wilhelm möchte – aus welchem Gründen auch immer – alleine sein, was seine Tochter aber offenbar nicht sonderlich berauschend findet. Wenn er jetzt nicht einfach alles stehen und liegen lässt, wird Bettina ihm am Ende des Tages wohl die Autoschlüssel abnehmen. Er wiederum, Felix, ist auf der Flucht vor seinem Vater. Der nicht gewalttätig oder etwas in der Art ist. Aber seit der seine Mutter verlassen hat, ist ihr Verhältnis zerrüttet und Felix will einfach keine Zeit mit ihm verbringen.

Beide wollen weg. Schnell. Um einfach einmal durchzuatmen und ihre Gedanken zu ordnen. Und mit dem Wölkchen, einem alten, umgebauten Ford-Wohnmobil, steht in Wilhelms Garage die ideale Fluchtmöglichkeit. Wilhelm muss zugeben, dass der Junge nicht ganz Unrecht hat. Einfach weg? Das klingt – gut! Felix hat Freunde im Rheinland, bei denen er für ein paar Tage unterkommen könnte. Wilhelm lässt sich überreden, Felix als Chauffeur zu dienen und ihn dort abzusetzen. Aber dann trennen sich ihre Wege.

Damit das klar ist.
Oder auch nicht.

Wie es sich für ein anständiges Roadmovie gehört, gibt es natürlich ein Verfolgerduo, das die Spur der beiden Ausreißer aufnimmt. In diesem Fall ist dies nicht die übervorsichtige, ihren Vater bemutternde Tochter Bettina, die sich auf den Weg macht. Es ist ihr Bruder Martin (David Rott), der flugs Felix' Mutter (Karolina Lodyga) eine Fahrtmöglichkeit bietet. Fahren sie zunächst ohne festes Ziel auf Verdacht gen Süden, bringt sie Felix unfreiwillig durch ein Video, das er seiner Mutter zusendet, damit diese sich keine Sorgen um ihn macht, auf eine erste Spur.

Netter Zeitvertreib
Im Grunde genommen lässt sich über «Der Alte und die Nervensäge» nicht Negatives sagen. Sicher ist die Degeto-Produktion Fastfood und ein Film für den Augenblick. Aber wenn Fastfood anständig serviert wird, nicht schlabberig ist und den Gaumen erfreut, was ist dann falsch an dem schnellen Happen für Zwischendurch? Tatsächlich gelingt es der Geschichte, die beiden unterschiedlichen Typen Wilhelm und Felix mit leichter Hand zusammenzuführen. Auch, da die Inszenierung direkt im Prolog mit einem Rückblick beginnt, der Wilhelm verletzlich wirken lässt. Ohne, dass er dem Publikum bereits bekannt wäre, erlaubt dieser Rückblick einen tiefen Einblick in sein Seelenleben. Er sitzt alleine in seinem großen Wohnzimmer und betrachtet ein Bild an der Wand. Es zeigt eine gezeichnete Alpenlandschaft. Es ist kein besonders aufregendes Bild, weder vom Motiv her noch von der Gestaltung. Und doch scheint der Anblick seine Seele zu berühren. Da sind Erinnerungen an eine junge Frau im Sonnenschein, die offenbar einem jungen Mann die Hand reicht. Es ist verständlich, dass dieser noch unbekannte Mann wenig erfreut darüber wirkt, von einem Paketboten aus seinen Tagträumen gerissen zu werden. Wilhelm wird von nun an über einen langen Zeitraum der folgenden Handlung wenig leidlich porträtiert. Er ist eigenbrötlerisch, er ist patzig. Er ist wirklich niemand, mit dem man gerne seine Zeit verbringen möchte. Doch dieser Tagtraum gleich zu Beginn der Geschichte offenbart eine sehr verletzte Seele. Deutsche TV-Komödien neigen oft dazu Figuren zu kreieren, die anfangs unleidlich wirken, die dann aber eine Wandlung durchmachen und sich von seelischen Konflikten durch die emotionale Verarbeitung eben dieser befreien. Oft bleibt da für die Zuschauer jedoch ein schales Gefühl zurück, da diese Verarbeitung nicht selten lediglich behauptet wird und sich aus dem tatsächlichen Geschehen kaum glaubhaft ableiten lässt.

Indem Wilhelm gleich zu Beginn eine differenzierte Darstellung erfährt, ist die Veränderung, die er durchläuft, in keinem Moment behauptet. Wenn Felix und Wilhelm zum Beispiel auf ihrem Weg, der sie viel weiter in den Süden führen wird als anfangs angenommen, in eine Hochzeit hineinplatzen und Wilhelm regelrecht gezwungen wird zu tanzen – spürt man direkt, wie ihn eine Freude überkommt, die man dem mürrischen Alten so gar nicht zugetraut hätte. Ohne den Prolog wäre diese Szene behauptet. Durch den Prolog erfährt sie Tiefe.

Ihm gegenüber, oder besser gesagt im Ford Transit neben ihm, sitzt Felix, über den anfangs wenig bekannt ist, der aber, obwohl er tatsächlich eine ziemliche Nervensäge sein kann, nie unleidlich wirkt. Dieser Felix hat seine Gründe, warum er weg will. Es verlangt das Gesetz der Serie, dass er irgendwann die Gründe für seine Flucht offenbaren wird. Felix braucht dementsprechend keine komplexe Einleitung wie Wilhelm: Felix darf zu Beginn Wilhelm einfach nerven – aber auch antreiben. Im Grunde sind es Felix' Ideen, die Wilhelm zu den seinen macht. Wo Prochnwo dem Alten einiges an Tiefe durch sein Spiel zu verleihen versteht, verleiht Marinus Hohmann seiner Figur eine fast schon irritierende Leichtigkeit. Nicht selten ist es der gerade einmal 16 Jahre alte Schauspieler, der im Spiel die Pointen setzt. Beide Figuren, alt und jung, agieren auf Augenhöhe.

Dass im Nebenstrang der Handlung ausgerechnet Wilhelms unverheirateter Sohn und Felix' alleinerziehende Mutter gemeinsam die Verfolgung der „Flüchtenden“ aufnehmen, hat natürlich Gründe, die kaum weiter ausgeführt werden müssen. Ist das ein Klischee? Ja. Macht es sich die Drehbuchautorin hier einfach? Ja. Funktioniert es trotzdem: Ja. Die Nebenhandlung ist wichtig, um der Story Tempo zu verleihen.

Am Ende lebt «Der Alte und die Nervensäge» von seinen beiden Hauptfiguren. Eingebettet in eine solide, wohldurchdachte Inszenierung, bewegen sich die Figuren tatsächlich sicher auf dem Terrain einer in einen Roadrip eingebetteten Feel-Good-Komödie, der es vielleicht an großen Höhepunkten fehlt, die aber auch keine Hänger produziert.

Das Erste zeigt den Film am Freitag, den 11. Dezember 2020, 20.15 Uhr
10.12.2020 12:35 Uhr Kurz-URL: qmde.de/123361
Christian Lukas

super
schade


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Der Sommer nach dem Abitur Das Boot Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Der Alte und die Nervensäge

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