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Popcorn und Rollenwechsel: So vieles darf man heute

Nicht nur pöbelnde Internetnutzer klagen, dass man heute ja nichts mehr sagen darf, sondern auch ein bekannter und erfolgreicher Regisseur. Zeit für einen Gegencheck.

"Leute sind heute zu empfindlich", sagen sie. "Keinen Witz darf man heute mehr machen, ohne dass alle schockiert sind", klagen sie. "Die Leute haben heute alle so ein dünnes Fell", befinden sie. Nicht nur anonyme Massen. Selbst ein Erfolgsregisseur wie Todd Phillips findet, dass die Kunst der Comedy getötet wird, weil dauernd wer empört ist. Aus Angst, von erzürnten Leuten übermannt zu werden, habe der «Hangover»-Regisseur die Comedy verlassen und sich neuen Genres gewidmet.

Nun, selbstredend gibt es Stürme im Wasserglas, die überflüssig und übertrieben sind. Das hat aber mehr mit der kurzen Lunte zu tun, die Leute mit Social-Media-Accounts haben, als damit, dass Menschen heute "zu woke" sind. Ja, heute geht nicht mehr jeder "Witz" durch, der jahrzehntelang durch ging. Denn wer 2001 noch gehässig nach unten treten konnte, ohne danach die Reaktionen der damit degradierten Gruppe mitzubekommen, wird 2019 darauf hingewiesen, mit seinem "Witz" Gefühle verletzt zu haben.

Aber viele, viele, viele der "Mimimimi, nichts darf man mehr"-Kläger, die sich aufregen, Leute hätten ein zu dünnes Fell, sind in Wahrheit die mit dem dünnsten Fell. Sie kommen mit fundierter (und ja, ab und zu auch unfundierter) Kritik nicht klar und jammern, wieso sie heute nicht mehr flache Gags gegen bestimmte Menschengruppen abschießen dürfen. Marke: "Es regt mich auf, dass ihr euch aufregt!" Und weil sie mit der Kritik nicht klar kommen, konstruieren sie eine Weltsicht, in der urplötzlich die Anzahl an möglicher Witze ganz gemein gekürzt wird. Und dann heulen sie herum, die Gesellschaft würde die Kunst der Komik abschaffen.

Dabei verschließen die "Buhuu, heute kann man keine Witze mehr erzählen"-Jammerfritzen die Augen vor dem kulturellen Austausch. Denn während sich Witze vom Mainstream in die kritisch beäugte Nische manövrieren, wie etwa gehässige Frauenwitze, abfällige Schwulenwitze und unbedachte Behindertenwitze, entstehen neue Möglichkeiten. Über die denkt der über "Political-Correctness-Wahnsinn" pöbelnde Internetmob und offenbar leider auch ein Todd Phillips wohl nicht nach. Denn im heilig gesprochenen früher als ja aaaaaalles besser war, gab es Gags, die nicht gingen, heute aber sehr wohl.

Die Älteren erinnern sich, die Jüngeren haben es vielleicht nachgeschlagen: Diverse Doris-Day-Komödien waren in Deutschland früher ab 16 Jahren freigegeben. «Was diese Frau so alles treibt» und «Ein Pyjama für zwei» waren früher "brisant", weil man etwa sieht, dass sich die Figuren einen Striptease anschauen (den Striptease sieht man im Film selber nicht), oder es ein paar doppeldeutige Sprüche gibt. Heute haben diese Filme keine Altersbeschränkung und gelten als harmlose Familienunterhaltung.

Nun gut, es liegen da natürlich einige Jahrzehnte zwischen. Stutzen wir die Spannbreite halt etwas: Dieses Jahr kam «Good Boys» in die Kinos, eine ab zwölf Jahren freigegebene Komödie, in der Zwölfjährige mit Analkugeln und Dildos hantieren. Der Film kam bei der Kritik gut bis sehr gut weg – und er hat nicht die leiseste Kontroverse provoziert. Glaubt wirklich irgendeine Seele, dass man "früüüüher" damit durchgekommen wäre, Zwölfjährige zu zeigen, die einem Mann, den sie für pädophil halten, eine Sexpuppe verkaufen, während sie drohend Sexspielzeug in der Hand halten? Verdammt, in den frühen 1990er-Jahren haben «Die Simpsons» vor Kontroversen gesorgt, weil Bart Simpson zu frech sei. Der gibt Widerworte! Und sagt so vulgäre Sachen wie "Friss meine Shorts"! Ein paar Jahre später waren «Beavis and Butt-Head» skandalös, weil sie … Äh … dauernd kichern?! Und ab und zu … zündeln?!

Und auch andere Komödien gehen heute, die viele Jahrzehnte nicht möglich waren. «Girls' Night Out», «Fleabag», «Dating Queen» und diverse weitere Komödien bringen eine weibliche Perspektive in Comedy-Subkategorien, die zuvor fest in Männerhand waren. Und wann immer mal eine Komikerin früüüher daran gerüttelt hat und in vergleichbarer Deutlichkeit scherzte wie männliche, in der Mitte der Medienwelt angekommene Kollegen, galt sie direkt als die versaute Skandalnudel. "Frau darf das nicht", hieß es sozusagen – mittlerweile nicht mehr. Ganz davon zu schweigen, wie offen und ungezwungen in Filmen wie «Bad Neighbors 2», «Mike and Dave Need Wedding Dates» oder «Pride» mit LGBTQ-Figuren gelacht werden darf. Noch 1998 war die Sitcom «Will & Grace» ein heißes Diskussionsthema, und die war hinsichtlich ihrer Darstellung und Scherze wesentlich zurückhaltender. Und zuvor galten solche Figuren primär als Ziele gemeiner Gags, nur selten als deren Ursprung auf Augenhöhe.

Comedy ist offener, freier, wilder und ungezügelter geworden. Mehr geht, ohne den ganzen Feuilleton in den Notzustand zu versetzen. Ein «Happy Gilmore» galt seinerseits als Rüpelkomödie, heute würde niemand mehr über den Film als Gesamtwerk eine Wimper zucken – nur manche Sprüche würden heute als zu gemein gelten. Muss man halt Twitter ein paar Tage ignorieren. Aber kaum ein Elternteil würde seinen Kindern heute verbieten, sich Filme "von diesem schmuddeligen Sandler" anzuschauen. Und die Trickserie «Popetown» sorgte monatelang für Schlagzeilen, weil die Katholische Kirche und zahllose Moralhüter es unerhört fanden, einen arroganten, schweinischen und jungen Papst zu zeigen.

Heute ist das Einzige, was Millionen von Menschen über «The Young Pope» hören, dass sie die Serie endlich mal nachholen sollten. Von wegen: "Nichts darf man heute." Nur im «ZDF-Fernsehgarten» mit einer Banane telefonieren. Das bringt noch immer den ganzen Blätterwald zum Beben.
10.10.2019 13:23 Uhr Kurz-URL: qmde.de/112782
Sidney Schering

super
schade


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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Nr27
11.10.2019 19:06 Uhr 1
Zustimmung.
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